Pinochet und die sieben Rächer

Die Pinochet-Kampagne eröffnet den Weg, gegen Störenfriede vorzugehen - je nach Interessenlage

Als im August 1975 im Athener Karaiskakis-Stadion Pablo Nerudas "Canto General" in der Vertonung von Mikis Theodorakis zur Aufführung kam, ertönte aus den Zuschauerrängen neben einer Reihe zeitgenössischer politischer Slogans auch ein vielstimmiger Ruf nach Rache: "Die Junta dem Volk!"

Damit waren eigentlich zwei Juntas gemeint: Die gerade über den verlorenen Zypern-Krieg gestolperte griechische, deren Repräsentanten, zum geringen Teil nach kurzer Inhaftierung, nun ihr demokratisches Gnadenbrot verzehrten. Und die seit fast zwei Jahren ihr blutiges Säuberungswerk für Freiheit und Demokratie betreibende chilenische Junta mit General Augusto Pinochet an der Spitze. Zwei nicht zuletzt auch durch die Nato gestützte Militärdiktaturen zur Niederhaltung von Bevölkerungen, die damals überwiegend in einer Weise politisch links orientiert waren, daß sie den Gralshütern der freien Marktwirtschaft Anlaß zu ernster Sorge gaben.

"Ich sehe nicht ein, warum wir dabeistehen und zuschauen sollten, wie ein Land durch die Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird", soll Henry Kissinger, einer der US-amerikanischen Initiatoren des chilenischen Putsches gegenüber Mitarbeitern geäußert haben. Das berichtete jedenfalls die New York Times am 11. September 1974, dem ersten Jahrestag von Pinochets Machtantritt.

Aus dem Verlangen nach Rache wurde nichts. Weder die griechischen noch die chilenischen Schlächter in Uniform hatten sich jemals gegenüber ihren Opfern zu verantworten. Das war eine konsequente Folge der Stagnation und der Niederlagen der Linken ab Mitte der siebziger Jahre.

Heute, nachdem er eine Erfolgsgeschichte in marktwirtschaftlicher Entwicklung und demokratischem Aufbau, wie er vom Westen stets gemeint war - d.h. Ausschluß der Linken und des von ihnen repräsentierten "Volkes" mit seinen Ansprüchen auf ein besseres Leben -, vorgelegt hat, soll Augusto Pinochet doch noch vor Gericht gestellt werden. Allerdings nicht vor ein revolutionäres Tribunal chilenischer Linker, sondern vor eine rechtsstaatliche Instanz eines jener Staaten, die seine Machtergreifung mit Erleichterung aufgenommen hatten.

Pinochets Verhaftung hat bekanntlich in Großbritannien selbst nicht nur Begeisterung in den politischen Herrschaftsetagen ausgelöst. War er doch bislang ein gern gesehener Gast unter anderem bei der Ex-Regierungschefin Margaret Thatcher. Pinochets Chile galt und gilt als einer der besten Kunden der britischen Rüstungsindustrie. Zum Zeitpunkt des Putsches kam das größte Kontingent europäischer Waffenlieferungen in den Andenstaat aus Großbritannien. Mit britischen Kampfflugzeugen wurde 1973 die Moneda, der Regierungssitz Salvador Allendes, bombardiert, 1982 stellte Chile der britischen Armee sein Territorium, vor allem seine Atlantikhäfen, für den Krieg gegen Argentinien zur Verfügung. "Ohne Pinochet hätten wir den Falkland-Krieg nicht gewinnen können", argumentieren heute, vielleicht etwas übertreibend, aber nicht ganz zu Unrecht, britische Gegner seiner Auslieferung an Spanien.

In Spanien fanden zum Zeitpunkt des chilenischen Putsches nicht nur die letzten Exzesse der Franco-Herschaft statt (Folterungen, Hinrichtungen all inclusive bis 1975). Spanien ist heute neben der Türkei eines der beiden europäischen Nato-Mitglieder, in denen die Folter zum Alltag der Auseinandersetzung mit staatsfeindlichen "Extremisten" zählt.

Spanien ist heute neben der Türkei das europäische Land mit den meisten politischen Gefangenen. Auch nach dem Abschied der Eta vom bewaffneten Separatismus sitzen immer noch mehr als 600 linksnationalistische Basken in den Sondergefängnissen. Noch Ende vergangenen Jahres hatte der Chef der Staatsanwaltschaft am spanischen Sondergerichtshof für "Terrorismus und Finanzverbrechen" die ersten eingehenden Strafanzeigen mit der Begründung zurückgewiesen, die chilenische Militärdiktatur sei nichts anderes als "eine vorübergehende Suspendierung der verfassungsmäßigen Ordnung" gewesen, "um die Unzulänglichkeiten dieser Ordnung zu beheben und den Frieden zu wahren". Eine Interpretation, die lange Zeit auf einen Konsens in der westlichen Welt vertrauen durfte.

Auch hatte Eduardo Frei, der christdemokratische Präsident Chiles, nicht ganz unrecht, als er kürzlich die Verbrechen des chilenischen Militärs mit "einigen illegalen Aktionen der spanischen Polizei im Kampf gegen den Terrorismus" verglich. Das war in den quantitativen Dimensionen reichlich übertrieben. Schließlich hatten die 1983 von der sozialdemokratischen PSOE-Regierung unter Felipe Gonz‡lez gegründeten Grupos Antiterroristas de Liberaci-n (Gal) "nur" 28 Eta-Anhänger und solche, die sie dafür hielten, ermordet. Was aber die qualitative Beurteilung des staatlichen Mordens betrifft, ist Frei durchaus zuzustimmen: Das Prinzip der physischen Auslöschung politischer Feinde als effektivste Form der staatlichen Auseinandersetzung mit ihnen war in beiden Ländern das gleiche.

Wo die Gal erwähnt werden, fällt heute notwendigerweise auch der Name Baltasar Garz-n, jenes "Superrichters" am spanischen Sondergerichtshof, der nun Pinochets Auslieferung fordert. Garz-n war bis vor einigen Jahren im wesentlichen damit beschäftigt, Linke und baskische Nationalisten in die Isolationshaft zu befördern. Auf seinem Posten gelangte er über das sichere Ticket einer Mitgliedschaft in dem sozialdemokratischen PSOE, dem Entreebillet für ehrgeizige Opportunisten im nachfranquistischen Spanien bis in die frühen neunziger Jahre. 1993 konnte er sich berechtigte Hoffnung auf den Posten des Innenministers machen. Als sich diese Hoffnung im Zuge einer PSOE-internen Intrige zerschlug, verzichtet er auf das zunehmend verfallende PSOE-Ticket und wechselte effektvoll die Seiten. Er unterstützte die von dem konservativen Partido Popular (PP) eingeleiteten Ermittlungen gegen PSOE-Funktionäre, denen nun ihre Rolle beim Aufbau der Gal angelastet wurde.

Garz-n war nun für die spanische Öffentlichkeit der "Richter der Rache", seiner persönlichen Rache. Schon während der Voruntersuchungen zum Gal-Prozeß, der in erster Instanz mit der Verurteilung prominenter PSOE-Funktionäre endete, ließ Garz-n Unterlagen, aus denen die Beteiligung der PSOE-Führung an den Morden hervorging, nicht nur dem PP zukommen, sondern schickte einen Großteil auch an die konservative Madrider Zeitung El Mundo. Diese Aktivitäten verschafften ihm auch außerhalb der spanischen Grenzen eine noch größere Popularität, als sie ihm seine "antiterroristischen" Aktivitäten bereits eingetragen hatten. Sein bislang größter Coup wird nun wohl die Auslieferung Pinochets werden - falls er sie erreicht.

Von ähnlich prinzipien- und skrupellosem Kaliber ist die von Schröder und Fischer repräsentierte neue politische Elite in Deutschland. Das Land, das Pinochets Chile 1974 einen 21-Millionen-Mark-Kredit verschaffte, dessen Bundeswehr chilenische Militärs ausbildete, dessen Verfassungsschutz Flüchtlinge, die in der deutschen Botschaft in Santiago Zuflucht suchten, auf Extremismusverdacht durchleuchtete, ist heute einer der internationalen Wortführer einer Verurteilung des Ex-Diktators.

Die entsprechenden deutschen Forderungen werden zunehmend mit einer Kritik an den USA verbunden. Der internationale Hauptverantwortliche für die chilenischen Verbrechen, heißt es, unternehme zu wenig für ihre Aufklärung, weil er selbst Dreck am Stecken habe. Ein Argument, das beim ersten Hinhören überzeugend erscheint, dessen demagogischer Charakter allerdings durch die Erinnerung an die deutsche Verstrickung offenbar wird.

Das Prinzip der aktuellen europäischen Demagogie in Sachen Pinochet und "Menschenrechte" geht, ungeachtet aller antiamerikanischen Intentionen, dennoch auf eine amerikanische Erfindung zurück. Als Mitte der siebziger Jahre nach dem verlorenen Vietnam-Krieg die USA in einer Art "Sackgasse" zu stecken glaubten, wurde eine "Menschenrechtsoffensive" gestartet.

Nun konnten auch vom Westen ausgehaltene autoritäre Regimes unter propagandistischen Beschuß geraten. In den US-Medien erschienen verstärkt Berichte über die Unterdrückung in Lateinamerika; US-Politiker profilierten sich gelegentlich als "ausgewogene" Freiheitsapostel, indem sie nicht nur die Verhältnisse in kommunistischen Ländern oder solchen, die sie dazu erklärten, geißelten, sondern ebenso beispielsweise die in Südafrika, Chile und Argentinien. Nach Reagans Machtantritt und dem folgenden geostrategischen Durchbruch der USA wurde diese Politik wieder zurückgenommen.

In Deutschland hatte man schnell den Nutzen dieser Politik begriffen und versuchte, sie auf eigene Weise fortzusetzen. Der alte Antikommunismus konnte effektiver und vor allem "glaubwürdiger" werden, kritisierte man auch (ein wenig) die Schweinereien im eigenen Lager.

Die perfide Logik dieser Aktivitäten erhellt ein Blick auf die "Menschenrechtskampagnen" der Konrad-Adenauer-Stiftung und führender CDU-Politiker in den achtziger Jahren. Die Konrad-Adenauer-Stiftung legte Dokumentationen zur "Lage der Menschenrechte" (sog. "Reports") in Chile und Südafrika vor - aber auch zu Afghanistan (damals unter sowjetischen Einfluß) und zum sandinistischen Nicaragua. Im Juli 1986 reiste der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler nach Südkorea und Chile, um sich dort mit Oppositionspolitikern zu treffen. Höhepunkt dieser Reise war ein "Beschwerdebrief" an US-Präsident Ronald Reagan. Ein Jahr später reiste sogar ein Regierungsmitglied, Norbert Blüm, nach Chile und traf sich dort publicityträchtig mit Vertretern der damals noch illegalen Christdemokratie. All diese Aktivitäten waren für deutsche Politiker seinerzeit sinnvoll bei der Erledigung des bereits in seinen letzten Zuckungen liegenden Ostblocks und der noch mit ihm sympathisierenden Staaten der Dritten Welt.

"Unteilbarkeit der Menschenrechte" lautete der damalige Slogan. Damit wurden unterschiedliche Staaten wie beispielsweise die DDR und Chile, Nicaragua und Südafrika, Argentinien und die Sowjetunion auf eine (moralische) Stufe gestellt und der "menschenrechtlichen" Disposition anheimgestellt. In jene Zeit fällt auch die Kohlsche Bemerkung, "bekanntlich" existierten in der DDR "Konzentrationslager". Es handelte sich dabei nicht um einen "Lapsus", wie gelegentlich beschwichtigt wurde, sondern um die "menschenrechtliche" Formulierung eines imperialistischen Anspruchs.

Die derzeitige Pinochet-Kampagne der europäischen Regierungen und ihrer juristischen und publizistischen Helfer weist eine ähnliche Zweckorientierung auf wie die "Menschenrechts"-Kampagnen der siebziger und achtziger Jahre. Nur vordergründig geht es um die Person des Ex-Diktators. Sie dient auch als Chiffre für das, was die neue europäische Großmacht zu bekämpfen vorgibt. Ein Strafprozeß gegen Pinochet könnte den Anfang für eine Reihe von ähnlichen Maßnahmen gegen andere Politiker eröffnen, die - anders als Pinochet - von der deutsch-europäischen Weltmacht als Störfaktoren ausgemacht werden.

Auch andere versuchen, auf den Fahrt gewinnenden Zug aufzuspringen: Litauische Nationalisten fordern die Verhaftung des seit längerem überflüssigen Gorbatschow. Und vergangene Woche beantragten in Spanien zwei exilkubanische Organisationen, die Kubanisch-Amerikanische Nationalstiftung und die Stiftung für Menschenrechte in Kuba, einen internationalen Haftbefehl gegen Fidel Castro - unter anderem wegen Völkermordes.

Eine, wenngleich geringe, erfreuliche Zukunftsaussicht bietet die staatliche Schmierenkomödie dennoch. Pinochets britische Anwälte ließen verlauten, wenn ihr Mandant an Spanien ausgeliefert werde, laufe die britische Königin Gefahr, anläßlich eines Auslandbesuchs festgenommen und wegen des Falklandkrieges an Argentinien oder wegen der Tötung von IRA-Terroristen durch den britischen Geheimdienst in Gibraltar an die Republik Irland ausgeliefert zu werden.