Wie wir es sehen wollen

Das eine und das andere Bildmuster: "Bent" erzählt mehrere Geschichten

Vier Bilder zur Auswahl: Nummer eins zeigt zwei Männer im Gespräch, Nummer zwei Mick Jagger als Transvestit und das dritte wiederum zwei Männer in Sträflingskleidung. Richtig interessant von den Motiven, die der Filmverleih Edition Salzgeber zwecks Illustration von Zeitungsartikeln zu dem englischen Spielfilm "Bent" (englisch für "Trieb", "Neigung") herausgibt, scheint dagegen Nummer vier zu sein: Zwei Männer in schwarzer SS-Uniform schneiden einem Nackten den Hals durch - ein Bild, wie aus der Phantasie des finnischen Zeichners und Uniformfetischisten Tom of Finland.

Vor der Pressevorführung setzt ein kleiner Run auf dieses Motiv ein: "Ich brauche das ganz dringend!" bemerkt ein Rezensent, "ich komme vom Freitag." Andere drängen: "Das sind die Bilder, die wir sehen wollen." Der nächste: "Ich auch, ich auch!" Wer schreit da? Der Autor der Jungle World. Auch die Redaktion möchte das eklige Motiv unbedingt. Die Kultur, die uns lehrte, so zu sehen und nicht anders, die sollte uns mal über den Weg laufen.

Um dieses Bild macht Salzgeber-Mitarbeiter Andreas Runde ein kleines Geheimnis. Es ist ein Dia, wird nur auf besondere Anfrage herausgegeben. Die anderen sind Papierabzüge. Es ist das Spektakulärste dieser vier Fotos. Das Gezeigte ist doch verachtenswert! Doch das Fiese wollen wir sehen. Und obendrein den anderen zeigen. Die Bilder, die wir haben wollen, sehen eben so aus. Wen interessieren zwei Sträflinge. Und der schillernde Rockstar im Tuntenfummel gar nicht? Wir wollen die SS-Verbrecher, die den Nackten aufschlitzen.

Den Film "Bent" will dagegen keiner. Es hagelt Verrisse, nicht zu Unrecht. Manch einem ist auch ganz einfach langweilig. Nur das Bild kann die Sensation ersetzen, die der Text nicht erbringen kann. Die Verfilmung des 1979 in London uraufgeführten Theaterstücks (Drehbuch: Martin Sherman) beginnt in Berlin 1934: In Gretas Club feiert man ein rauschendes Fest. Greta (Mick Jagger) sitzt im Pappmond und singt erhebende Lieder. Es soll die letzte Party sein vor dem "Röhm-Putsch", in dessen Verlauf die gesamte SA-Führungsriege von der SS liquidiert werden soll. Max (Clive Owen) stürzt sich ins schwule Nachtleben. Obwohl er den Tänzer Rudy (Brian Webber) liebt, kann er einem attraktiven SA-Mann nicht widerstehen. Max' Eroberung ist jedoch ein Günstling Röhms.

Am nächsten Morgen wird ihm in der Wohnung von Max und Rudy von SS-Männern die Kehle durchgeschnitten. Verraten hat ihn Greta, die sich vom Transvestitendasein distanziert, weil sie weiß, was die Stunde geschlagen hat. Max und Rudy fliehen. Ihnen bleibt nur eine Chance: Mit der Hilfe von Max' Onkel Freddie (Ian McKellen) nach Amsterdam fliehen. Die Gestapo spürt die beiden jedoch auf, sie werden ins KZ transportiert. Rudy wird aussortiert, weil er eine Brille trägt und homosexuell ist.

Max wird dazu gebracht, ihm die letzten tödlichen Schläge zu versetzen. Er selbst wird auf die Probe gestellt. Er muß mit einer toten 13jährigen Mädchen schlafen, während die SS-Garde zuschaut. Wie alle anderen Prüfungen besteht er auch diese. Er selbst erklärt sich das unter Tränen mit seiner außerordentlichen Fähigkeit zur Wirklichkeitsfälschung. "Das darf nicht wahr sein", schluchzt er, um dann an die falsche Wahrheit zu glauben.

Der Film zerfällt in zwei Teile. Anfangs wird ein vermeintlich historisches Geschehen wiedergegeben, rasant erzählt mit Sex und Gewalt. Mit der Ankunft im Kalkwerk beginnt reines Sprechtheater. Max und Horst ist es untersagt, sich zu berühren. Sie dürfen sich nicht ansehen. Ihre Dialoge ersetzen ihnen Wärme und Zärtlichkeit. Später im KZ wird er seinem Leidensgenossen Horst (Lothaire Bluteau) sagen, seine Überlebensstrategie bestehe in der Anpassung. Menschen, die ihm nahestünden, bringe er den Tod. Höhepunkt der Selbstverleugnung: Max gibt sich als Jude aus, um nicht als Schwuler erkannt zu werden. Schwule, so Max, stünden noch unter den Juden.

Zwölf Stunden am Tag beschäftigen sich die beiden mit einer völlig sinnentleerten Arbeit. Wie zwei Figuren von Beckett tragen sie in einem Kalkwerk Steine von Haufen A zu Haufen B, bis kein Stein mehr übrig ist. Anschließend tragen sie die Steine zurück. Im Winter machen sie dasselbe mit Schnee.

Als Horst krank wird, organisiert Max Medikamente. Auf die Frage, wie ihm das gelungen sei, antwortet er, er habe den zuständigen SS-Offizier oral befriedigt. Er glaubt, daß er dieses "Vorrecht" als Schwuler nicht gehabt hätte. Mit einem Schwulen hätte sich der SS-Offizier nie eingelassen, mit einem Juden schon. Der Coup fliegt auf. Horst wird erschossen. Max bekennt sich zu sich selbst und streift die Jacke mit dem Rosa Winkel über. Anschließend stürzt er sich in den Stromzaun. Zum Coming-out erklingt die schöne Musik von Philip Glass.

Das Schauspiel enthält zweifelsohne äußerst fragwürdige Erzählkomponenten. Zu Beginn zeigt es die SA in ihren martialischen Uniformen als nettes, koksendes Kumpelnest. Eine Gegenreaktion? Röhm war schwul, die SPD benutzte dies 1931 in ihrem Wahlkampf. Hitler nahm das als Anlaß, die SA-Führung umzubringen. Wozu die SA gut war, verschweigt der Film. Über die Philosophie des Max scheinen zudem Opfergruppen gegeneinander ausgespielt zu werden: Im KZ war es eigentlich nicht so schlimm, ein Jude zu sein.

Das Begleitheft unterstützt diese Version. Den Homosexuellen seien die allerschlechtesten Arbeiten zugewiesen worden, unter ihnen habe es keine Solidarität gegeben wie bei den anderen. Eine gutmenschliche Tendenz zeichnet abermals der Begleittext vor. Der Rosa Winkel sei in den Siebzigern auf den Kopf gedreht ein Symbol des Stolzes der Schwulen gewesen, er stehe für Aktion statt Resignation. Soll der Film erzählen, völlig unterschiedliche Menschen seien erst durch einen Aufenthalt im Straflager zur Solidarität fähig?

Der Film verschweigt die Gaskammern ebenso wie die generelle Nazi-Konstruktion des Begriffs vom "Untermenschen", der sich keineswegs

auf Schwule allein bezog. Weil der Rosa Winkel größer als die anderen Kennzeichnungen gewesen sei, habe man diese Gruppe besonders kenntlich machen wollen.

Die Dialoge im zweiten Teil gleiten zudem ins Schmalzige. Sätze wie "Liebe ist nicht für Schwule" oder "Wer mich liebt, der stirbt" weichen den Stoff ins Romantische auf und laden zu harten satirischen Antworten ein. "Wo nur die Liebe bleibt" (sie bleibt eben nicht) - mit diesem Slogan ist das Plakat überschrieben, wem fiele da nicht Kai Pflaumes "Nur die Liebe zählt" ein. Populäre Kontexte bewegen sich ausschließlich in populären Diskursen. Gerade dort, wo der Film gerade besonders künstlerisch sein will - die bestimmt nicht schlechten Schauspieler neigen zum kläglichen Overacting (andere würden dies eine ausdrucksstarke Leistung nennen) - zeigt er eine unglaubliche Naivität. Muß man denn aus allem Kunst machen, fragt man sich beim Zuhören, wenn Max und Horst sich ihre Liebe gestehen. Hier soll sich das Unbeschreibbare in moralische Kunst mit Aussage verwandeln.

"Bent" ist in einer Sackgasse, wo er die Bilder des Faschismus in der populären Kultur referiert. Hier gute, eigentlich unpolitische SA-Jungs, da fiese SS. Mehr als einen Film machen zu wollen, das aber als Film, scheint die Beteiligten moti-viert zu haben. Wie also der Film selbst den Irrtum beschreibt, Künstlichkeit könne als Kunst das Wahre besser erzählen als eine "authentische" Abbildung, so erwarten die Rezensenten sarkastisch das reißerische Bild: Uniformierte schlitzen Kehlen auf. Der Kritiker geht schließlich von Film zu Film: "Starship Troopers", "Titanic", "Schindlers Liste" und jetzt eben das schwule Drama.

"Bent" sei der Versuch, Theater in den Film zu übernehmen, sagt Verleiher Runde. Ohne Vorurteile sei er zu anzusehen, in Deutschland könne das eben niemand. Darstellung von Geschichte sei ein schwieriges Unterfangen, ein Theaterstück zu verfilmen, auch. Und die Zementfabrik könnte auch in Schottland stehen. "Klar denken sich alle: Schwule und Holocaust - super Thema. Man könnte auch einwenden: Hier geht es um saudoofe, unpolitische Schwule." Ihn habe der Film "berührt". Der Film wolle nichts als Kunst sein, dieses Projekt wäre man auch der Tradition des Verleihs schuldig. Hätte "Bent" Derek Jarman oder gar Steven Spielberg gedreht, wären alle begeistert. Darf man keine Fehler machen, soll die Geschichte der Homosexuellen unter der Nazi-Herrschaft daher unerzählt bleiben? Dennoch kokettiert Runde mit seiner Öffentlichkeitsarbeit. Demnächst würden Pressefotos nur noch nach Filmen vergeben. "Bent" erhielt 1997 den Prix de la Jeunesse in Cannes, 1998 den Publikumspreis in Emden und Freiburg.

Gut gemeint ist halb gewonnen, und Gefühl gehört nunmal zu Kino. "Bent" ist das Projekt einer sicher ambitionierten Künstlergruppe, die sich an Adornos Diktum der Nichtabbildbarkeit des Holocaust abarbeiten wollte. (Peinliche Situation: Der Hauptdarsteller wird irgendwo für seine besonders gute Darstellung eines KZ-Opfers öffentlich ausgezeichnet). Da es aber ein Kunstproduktionsverbot nicht gibt, bleibt, daß die populären Bilder der Geschichte eben auch die Geschichte ihrer Bilder, "die wir sehen wollen", miterzählen. So wie das Pressefoto, auf das sich alle stürzen: die rasende Phantasie von den Uniformierten, die einen nackten jungen Mann umbringen.

Zur Geschichte des Fotos gehört also auch die Rezeption. Und hier zeigt sich, daß das Populäre besonders viele, z. T. widersprüchliche bzw. ineinander übergehende Rezeptionsweisen gestattet:

Kunstanspruch: Der Holocaust ist ein ernstes Thema. Wir machen ernste Kunst (Produzenten). Das Nichtabbildbare ist in der Kunst abbildbar.

Sensationsanspruch: Das soll doch "nur" Kunst sein, ist auf jeden Fall abseits des Mainstream (Verleiher/Kinobetreiber). Das hat es wirklich gegeben.

Reinigung der Affekte: Ich bin betroffen. Angerührt sein durch Filmende. Bin Kunstfreund/feind (Zuschauer).

"Wir hätten es (nicht) besser gemacht": Kritik des Formalen, moralischer Ansatz, zynischer Zugang. "Das sind die Bilder, die wir sehen wollen": Sensation betonend, Verriß, vielleicht humorige Bildunterschrift. Läßt sich ausdehnen: Jemand sammelt die Rezensionen und attackiert die Autoren. (Kritik).

Ausnahmen gibt es natürlich nicht. Die Aussage des Kritikers muß völlig ersichtlich sein. Der Standort des Jungle-World-Rezensenten wurde eingangs beschrieben und erkennbar gemacht.

"Bent". GB 1997. R: Sean Mathias, D: Clive Owen, Lothaire Bluteau, Brian Webber, Ian McKellen, Mick Jagger. Start: 12.11.