Am »Wahrheitskern«

Eine Erwiderung auf Matthias Küntzels "Bruchstücke deutscher Normalität"

Matthias Küntzel hat in der letzten Ausgabe von Jungle World eine gute Polemik gegen den Publizisten Jörg Lau geschrieben. Lau hat vom normalen Deutschland gesprochen, als das Wort von der Normalität noch kein Gemeinplatz, sondern bloß ein Luhmannscher Terminus war. Lau kommt - das ist kein Zufall - von der taz, wo er z.B. 1995 Günter Grass dafür schalt, das neue Deutschland mit dem militarisierten Preußen zu vergleichen. Wer es so gut wie Lau versteht, dem Zeitgeist gefällig zu sein, der kommt schließlich in die Zeit. Dort darf er sich dann z.B. darüber mokieren, daß immer bloß über Hitler, Holocaust und solche Sachen konversiert wird.

Küntzel sieht in Laus Aufsatz über Binjamin Wilkomirski - den Schriftsteller, der, nach allem, was wir wissen, sich eine Kindheit im KZ imaginiert hat - zu Recht den Versuch, nicht die Formen des Gedenkens und Erinnerns zu reflektieren, sondern das Gedenken und Erinnern insgesamt zurückzudrängen.

Einem einzigen Satz Laus stimmt Küntzel vorbehaltlos zu: "Daß es jedermann freisteht, an die Authentizität der Berichte über den Holocaust zu glauben oder nicht zu glauben - dies ist ja gerade die zynisch-entspannte Position der modernen Revisionisten, die die Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie gelernt haben."

Das ist ein sehr merkwürdiger Satz: Die Revisionisten, d.h. die Auschwitz-Leugner, sollen also die "Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie" gelernt haben. Ich kenne die Schriften der Revisionisten nicht sehr gut, deshalb frage ich mich, wer hier gemeint sein soll. Immerhin war ich einmal gezwungen, die Pamphlete ihres Anführers, Robert Faurisson, zur Kenntnis zu nehmen.

Etwas Postmodernes habe ich darin nicht finden können. Im Gegenteil gibt sich Faurisson als Aufklärer alten Schlages, als ein Empiriker, der unumstößliche Beweise gefunden hat, als ein genauerer Historiker, der Baupläne studiert und Dokumente auswertet. Und das ist auch ganz plausibel: Er möchte nicht eine Wahrheit in der Schwebe, er möchte keinen Zweifel, er will die Lüge, daß die "Gaskammern ein Mythos" sind, nicht bloß andeuten, sondern wissenschaftlich untermauern.

Man könnte diesen Satz Laus, den Küntzel unterstützt, als Verwirrung und Belanglosigkeit, als unbewiesene Behauptung ohne Erkenntniswert ansehen: Denn wenn es Nazis gibt - und es gibt sie -, die sich auf Marx, Lenin, Gramsci beziehen, warum sollte es nicht auch Auschwitz-Leugner geben, die Lyotard zitieren können?

Doch ist Lau dieser Satz nicht unbedacht entschlüpft, und Küntzel hat ihn nicht ohne Hinterabsicht zitiert. Denn in einem sind sich beide einig: daß die "postmoderne Erkenntnistheorie" des Teufels ist. Lau glaubt es, weil er ein Pragmatiker, ein Luhmann-Anhänger ist; und Küntzel, weil er den Common sense in Gefahr sieht.

Das wird in der zweiten Hälfte von Küntzels Aufsatz deutlich. Darin befaßt er sich mit einem Essay von Günther Jacob in konkret (11/98).

Ich halte Jacobs Essay für kritikwürdig. Zwar ist sein Vorschlag interessant, Wilkomirskis Text "in die Reihe der Holocaust-Romane von Nichtopfern" zu stellen. Aber es ist mit solch einem Genre-Wechsel noch nicht aus der Welt, daß Wilkomirski sich selbst öffentlich als Opfer präsentiert hat. Sollte diese Selbstdarstellung auf einer Projektion oder gar einer Anmaßung beruhen, wird und muß das auch in die Lektüre miteinfließen. Ein Zeugnis ist kein Roman und umgekehrt, auch wenn in diesem Fall das Zeugnis immer schon romanhafte Züge trug.

Wie Jacob das Literarische des "literarischen Zeugnisses" bestimmt, ist widersprüchlich. Einerseits weist er darauf hin, daß das Zeugnis Erlebtes "in die Strukturen des bereits Bekannten transformieren" muß und daher notgedrungen "rhetorische Elemente", kulturelle, religiöse Versatzstücke usw. einsetzt. Andererseits glaubt er, daß "die Urteilsfreiheit des Literaturkritikers dort eingeschränkt ist, wo ein Anspruch auf Zeugenschaft existiert".

Zeugnisse sind also literarisch, aber sie dürfen nicht literarisch gelesen werden. Wenn Jacob gesagt hätte, er sehe die Holocaust-Literatur nicht gerne in den Händen des deutschen Feuilletons, hätte ich ihm ohne weiteres zugestimmt. Aber wenn Literatur gelesen werden soll, muß sie auch literarisch gelesen werden, nur so wird sie geöffnet, nur so haben wir die Chance, zu ihr Zugang zu finden.

Jacob wirft der Linken vor, "fiktional" mit "frei erfunden" zu übersetzen. Der Vorwurf ist auch in diesem Fall angebracht: Weder kann Wilkomirski alles frei erfunden haben (es gab Kleinkinder im KZ), noch kommt (literarische) Sprache jemals ohne Fiktionen (Tropen, Perspektive) aus. Aber indem Jacob auf einem so dubiosen Begriff wie dem der "Authentizität" besteht, unterläuft ihm diese Verwechslung selbst.

Küntzel unterläuft diese Verwechslung nicht, auf ihr hat er seine Historiker-Welt errichtet: "Im Fall Wilkomirski steht nicht die Suggestionskraft von Literatur zur Debatte, sondern die Wahrhaftigkeit eines Autors; die Frage also, ob dessen Darstellung einen biographisch beglaubigten Wahrheitskern in Anspruch nehmen kann oder nicht."

Laßt euch nicht verführen von der "Suggestionskraft" der Literatur, warnt uns Küntzel, hört nicht auf den Gesang der Sirenen, steuert immer auf den "Wahrheitskern" zu! Nur wer Fakten und Fiktionen reinlich scheide, respektiere die "Dignität des autobiographischen Zeugnisses". Wenn die sprachlich-rhetorisch-fiktionale Rinde abgeschält ist, soll der historisch-autobiographische "Wahrheitskern" vor uns liegen.

Das heißt: Küntzel möchte das Zeugnis gar nicht hören. Er verlangt ein Zertifikat, das ihn davor bewahrt, ein Risiko einzugehen. Dieses Zertifikat wird ihm jedoch, solange ein Zeugnis ein Zeugnis ist, niemand ausstellen können. Denn ein Zeuge spricht von einer unteilbaren Erfahrung, er spricht ein Geheimnis aus, das er allein besitzt, "das ist, im strengen Sinn, die Voraussetzung der Zeugenschaft und deshalb wird man niemals, etwa mit einem theoretischen Beweis oder einem Urteilsspruch, im Zeugnis einen Meineid oder eine Lüge nachweisen können". (Jacques Derrida, "Demeure. Maurice Blanchot", Paris 1998)

Wenn Wilkomirskis Fall und ähnliche Fälle geklärt sein sollten - wenn das wenige, was Historiker beisteuern können, bekannt ist -, fangen also für den, der bereit ist zu lesen und zuzuhören, die Schwierigkeiten erst an: Im Versuch, sich dem Geheimnis des Zeugnisses zu nähern, wird die Qual desjenigen spürbar, der es gegen alle inneren und äußeren Widerstände abgelegt hat. Zeugnisse sind auch Dokumente des Scheiterns an der Sprache.

Cordelia Edvardson, eine Überlebende, schreibt im Nachwort zu Primo Levis "Ist das ein Mensch?" (München 1988): "Sag es aber nicht den Menschen. Da ist keine Sprache, da sind keine Worte, mit deren Hilfe Du das Unsagbare sagen, das Unbegreifliche erklären könntest. Kein Sprachgewand, das über das Skelett Deiner Erfahrungen geworfen werden könnte. Keine Buchstaben für den Schrei." Man wird in den Zeugnissen immer wieder auf diesen Widerspruch stoßen: Das Schreiben selbst widerlegt, die Sprache selbst verhöhnt das Zeugnis, und dennoch muß geschrieben werden. Das zu mißachten, den Widerspruch nicht ertragen zu können, heißt, nicht zu lesen.

Diese Mißachtung, die sich auch noch zu besonderer Gerechtigkeit aufwirft, erkenne ich bei Matthias Küntzel. Er möchte, kurz gesagt, Zeugnisse zu Protokollen, Informationen, historischem Material degradieren. Darin besteht sein Respekt, der keiner ist.

Man könnte das auf sich beruhen lassen, verwiesen nicht die Warnungen, die Küntzel am Ende seines Textes von Moshe Zuckermann und Julius H. Schoeps aussprechen läßt - vermischt nie Fakten mit Fiktionen! -, auf jenen demagogischen Satz Jörg Laus, den Küntzel zu Beginn zitiert. Einer wie Günther Jacob, wird suggeriert, der es an der nötigen Trennschärfe zwischen Fakten und Fiktionen mangeln läßt, stellt der nicht den Glauben an die "Authentizität der Berichte" (Lau) jedem selbst anheim, handelt der also nicht wie die "modernen Revisionisten, die die Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie gelernt haben" (Lau)?

Hier werden Unreflektiertheit und Selbstgefälligkeit zur Infamie. Und das kann man nicht auf sich beruhen lassen.