Der Stoff, aus dem Regierungen sind

Programmgemäß ist die türkische Administration unter Yilmaz gestürzt. Eine neue ist nicht so leicht zu bilden

Zuletzt konnte ihn nicht einmal mehr Abdullah Öcalan retten. Alle Beschwörungen, die Türkei brauche beim Ringen um den "Staatsfeind Nummer eins" eine handlungsfähige Regierung, halfen nichts. Am Mittwoch vergangener Woche war Mesut Yilmaz mal wieder gescheitert. Nach 17 Monaten endete sein dritter Versuch als türkischer Ministerpräsident im Debakel. 314 von 528 anwesenden Abgeordneten sprachen dem 51jährigen im Parlament von Ankara das Mißtrauen aus. 276 Parlamentarier hätten ausgereicht.

Solange hatte der Vorsitzende der konservativen Mutterlandspartei (Anap) bisher noch nie durchgehalten. Doch dafür war sein Sturz diesmal umso schmerzhafter: Ausgerechnet seine Intimfeindin Tansu Çiller durfte mit dem Hinweis triumphieren, daß der als "Saubermann" angetretene Yilmaz der erste türkische Premier sei, der über eine Korruptionsaffäre stürzte.

Gestolpert ist Yilmaz über die Aussagen des Bauunternehmers Korkmaz Yigit. Seit dem 9. November befindet sich Yigit in Istanbul in Untersuchungshaft. Er steht unter dem Verdacht, bei Ausschreibungen die Mafia eingeschaltet zu haben, um Mitbewerber zurückzudrängen. Das empfand der umtriebige Geschäftsmann, der im Sommer in kürzester Zeit aus dem Stand je zwei Zeitungen, Fernsehkanäle und Banken aufgekauft hatte, als ungerecht. Schließlich habe er die Regierung über alle Entwicklungen unterrichtet, teilte Yigit der erstaunten Öffentlichkeit über seine neuerworbenen Fernsehkanäle mit. So habe der Premier und sein für die Koordination der Wirtschaftspolitik zuständiger Staatsminister Günes Taner auch gewußt, daß der in Frankreich inhaftierte türkische Mafia-Pate Alaatin Cakici bei großen Privatisierungsprojekten bestimmte Bewerber mit Morddrohungen zum Verzicht gezwungen hatte.

Yilmaz dementierte energisch und reichte gegen Yigit eine hohe Schadensersatzklage ein. Doch glauben wollte ihm die Mehrzahl der Parlamentarier ebensowenig wie seinem Minister. Noch vor dem Mißtrauensvotum gegen Yilmaz entzogen die Abgeordneten Günes Taner das Vertrauen. Damit verlor er mit sofortiger Wirkung sein Amt. Die restlichen Minister mit Yilmaz an der Spitze werden hingegen bis zur Ablösung durch ein neues Kabinett ihre Amtsgeschäfte weiterführen.

Nun obliegt es Staatspräsident Süleyman Demirel, eine neue tragfähige Regierung zu finden. "Es wird nicht leicht sein", erklärte der 74jährige Konservative. Er gab sich jedoch zuversichtlich: "Ich werde mal sehen, welchen Anzug ich aus dem vorliegenden Stoff schneidern kann."

Die Verhältnisse sind verworren: Aus den fünf bei den letzten Wahlen ins Parlament gewählten Parteien sind mittlerweile zehn geworden. Mit Ausnahme der islamistischen Tugendpartei verfügt keine Partei über mehr als ein Viertel der Abgeordneten. Ein Großteil der Abgeordneten zeichnet sich durch ein Höchstmaß an Mobilität aus: Von den 550 Parlamentariern haben bereits 230 mindestens einmal im Laufe der Legislaturperiode die Partei gewechselt. Gemäß der Verfassung beauftragt der Staatspräsident einen Politiker mit der Bildung einer neuen Regierung. Dieser hat dann 45 Tage Zeit, ihm eine Kabinettsliste vorzulegen. Wenn dies bis Ablauf dieser Frist nicht gelingt, hat der Präsident das Recht, das Parlament aufzulösen, eine Mehr-Parteien-Übergangsregierung zu ernennen und Neuwahlen binnen 90 weiteren Tagen anzuordnen.

Die stärkste Fraktion im türkischen Parlament bildet mit 144 Abgeordneten die aus der verbotenen Refah-Partei hervorgegangene islamistische Tugendpartei. Mit deren Vorsitzendem Recai Kutan sprach der Staatspräsident am vergangenen Donnerstag als erstem. Jedoch gilt es als ausgeschlossen, daß Kutan den Auftrag zur Regierungsbildung bekommt. Das wäre nicht im Sinne der mächtigen Militärs, deren Interessen Demirel im politischen Raum exekutiert.

Im Februar 1997 hatten die türkischen Generäle die erste islamistisch geführte Regierung der Türkei unter Necmettin Erbakan zum Rücktritt gezwungen. Seither haben sie immer wieder deutlich gemacht, daß sie die Islamisten auch an einer künftigen Regierung nicht beteiligt sehen wollen. Zur Verhinderung eines drohenden Sieges bei den vom Parlament im Juli auf den 18. April 1999 terminierten Neuwahlen sind mittlerweile Dutzende von juristischen Verfahren gegen islamistische Führungskader anhängig. Das Staatssicherheitsgericht von Ankara hat erst Anfang letzter Woche neue Untersuchungen gegen 31 führende Islamisten eingeleitet. Sie werden beschuldigt, die verfassungsmäßige Ordnung mit Gewalt umstürzen zu wollen. Unter ihnen befinden sich Ex-Regierungschef Erbakan sowie der Vorsitzende der islamistischen Unternehmer-Union, Erol Yarar.

Demirel und die Militärs haben durchblicken lassen, daß sie eine Regierung der "nationalen Rettung" ohne Beteiligung der Islamisten, die bis zum Ende der turnusmäßigen Amtszeit im Jahr 2000 amtieren würde, für die beste Lösung hielten. Ihr Kalkül: So könnte Zeit gewonnen werden, um die Islamisten weiter zurückzudrängen.

Spitzenpolitiker der großen Parteien sind diesem Ansinnen allerdings umgehend entgegengetreten. Der gestürzte Yilmaz und andere Parteichefs sprachen sich statt dessen sogar für einen noch früheren Wahltermin als den im kommenden April aus.

Auch eine große Koalition der nicht-religiösen Parteien wird es nicht geben. Sowohl Yilmaz als auch sein bisheriger Koalitionspartner, der Chef der Demokratische Linkspartei (DSP), Bülent Ecevit, haben bereits definitiv erklärt, keine Koalition mit der Republikanischen Volkspartei (CHP) eingehen zu wollen. Die sozialdemokratische CHP hatte der Minderheitsregierung die Unterstützung entzogen und so für deren Sturz gesorgt.

Als wahrscheinlichste Variante gilt derzeit ausgerechnet eine Koalition zwischen der Anap von Yilmaz und der Partei des Rechten Weges (DYP) Tansu Çillers. Zwar sind sich beide Parteien programmatisch zum Verwechseln ähnlich, doch verhinderte bislang die Feindschaft ihrer beiden Chefs eine längerfristige Zusammenarbeit. Der letzte Versuch scheiterte 1995 bereits nach drei Monaten. Nun signalisierten sowohl Yilmaz als auch Çiller Gesprächsbereitschaft.

Als zur Mehrheitsfähigkeit notwendige Dritte im Bunde käme die Demokratische Linkspartei (DSP) in Frage. Parteichef Ecevit hat bereits seine Zustimmung erklärt. Der Linksnationalist könnte dabei von der Rivalität zwischen Yilmaz und Çiller profitieren und auf seine alten Tage noch einmal den Ministerpräsidentensessel erklimmen. Das letzte Mal hatte er dieses Amt in den siebziger Jahren inne, damals noch als Chef der CHP.

Als "eine Regierung zwischen Komplizen" kommentierte der heutige CHP-Chef Deniz Baykal eine mögliche Koalition aus Anap, DYP und DSP. Was er damit meinte, veranschaulichten Yilmaz und Çiller am Montag vergangener Woche. Da bewiesen die beiden Verfeindeten, wie zielorientiert sie agieren können, wenn sie ihr Kriegsbeil einmal begraben. Die Mitglieder zweier parlamentarischer Untersuchungskommissionen, die herausfinden sollten, ob Çiller - in deren Regierungszeit die Verstrikkungen zwischen Politik, Mafia und Sicherheitskräften besonders ausgeprägt waren - und Yilmaz ihr Vermögen auf unlautere Art vermehrt haben, kamen zu dem Schluß, daß ihnen keine Unregelmäßigkeiten nachgewiesen werden könnten. Ciller und Yilmaz hatten sich zuvor auf ein "Gentlemen's Agreement" in eigenem Interesse verständigt. Nun werden sämtliche Verfahren, die gegen die beiden wegen Amtsmißbrauchs und Korruption im Parlament noch anhängig sind, eingestellt.

Noch ist nicht sicher, ob Staatspräsident Demirel tatsächlich Ecevit, seinem großen Widersacher in den siebziger Jahren, den Auftrag zur Bildung der 56. Regierung der Türkei erteilen wird. Bis zum Wochenende traf sich Demirel mit allen Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien, wollte sich danach jedoch noch nicht auf eine Regierungsoption festlegen. In dieser Woche will er seine Entscheidung treffen, kündigte er an.