»Juristische Kriegserklärung«

In Frankreich häufen sich die Konflikte um die Sans-papiers: Harte Urteile, Polizeieinsätze gegen Hungerstreiks, Streit in der Regierung

"In 15 Jahren Anwaltstätigkeit habe ich so etwas noch nie erlebt." So kommentierte der Jurist Stéphane Maugendre das Urteil der 12. Strafkammer des Pariser Appellationshofs (Berufungsgericht), das soeben gegen seinen Mandaten Sirine Diawara ergangen war. Zusammen mit elf anderen Sans-papiers ("illegale" Immigranten ohne Papiere) aus dem westafrikanischen Sahelzonenland Mali hatte dieser sich im April seiner Abschiebung per Flugzeug widersetzt und die Passagiere des Linienflugs Paris-Bamako zur Solidarisierung aufgefordert.

Die zwölf unfreiwilligen Fluggäste waren von den sie begleitenden Polizisten geknebelt und an ihre Sitze gefesselt worden. Aber 15 Insassen des Flugzeuges hatten gegen diese Methoden protestiert und sich geweigert, Platz zu nehmen und den Abflug zu ermöglichen. Den Beamten war nichts anderes übriggeblieben, als die zwölf wieder loszubinden und unverrichteter Dinge abzuziehen.

Für das Delikt der "Weigerung, sich einer Abschiebemaßnahme zu unterwerfen", wurde Sirine Diawara am Donnerstag vergangener Woche zu einem Jahr Haft ohne Bewährung sowie anschließenden fünf Jahren Einreiseverbot nach Frankreich verurteilt. Drei andere Sans-papiers erhielten Strafen von sechs bzw. drei Monaten - ebenfalls ohne Bewährung. In erster Instanz waren sie freigesprochen worden, doch die Staatsanwaltschaft hatte sofort Berufung eingelegt.

Die ungewöhnliche Härte der Sanktionen - Strafen in dieser Höhe werden fast immer zur Bewährung ausgesetzt - hat die Antirassismusorganisation MRAP dazu veranlaßt, in einer Presseerklärung von einer "Provokation" zu sprechen, von einer "juristischen Kriegserklärung gegen die Sans-papiers und ihre Unterstützer". Auch die Grünen und die linke Richtergewerkschaft Syndicat de la Magistrature kritisierten das Urteil scharf.

Ebenfalls am Donnerstag drängten sich im nordfranzösischen Lille zwei Dutzend Menschen in einem engen Raum zusammen, in dem weitere 15 Personen - in Decken und Schlafsäcke eingehüllt - auf dem Boden kauerten, manche von ihnen schlafend oder vor sich hindämmernd. Seit 52 Tagen befanden sich die Sans-papiers zu diesem Zeitpunkt im Hungerstreik, in einem von ihnen besetzten Pavillon der Krankenschwesternschule auf dem Gelände des gigantischen Krankenhauskomplexes von Lille. Von dem landesweiten Kongreß des KP-nahen Gewerkschaftsbundes CGT zum Thema "Rassismus in der Arbeitswelt", der am Donnerstag und Freitag vergangener Woche in der Kongreßhalle von Lille stattfand, kam eine Solidaritätsdelegation bei den 22 Hungerstreikenden vorbei. Ein Teil der Sans-papiers wurde am selben Tag in die Notaufnahme des Krankenhauses aufgenommen.

Auf Plakaten nennen sie die Gründe ihres Hungerstreiks: "Ich bin seit 1977 in Frankreich", erfährt man etwa von einem Guineer. Nach den Kriterien, welche die Jospin-Regierung ihrer im Juni 1997 begonnenen "Legalisierungs"-Operation zugrunde gelegt hat, müßte ihm damit eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die soll es ab 15 Jahren faktischen Aufenthalts in Frankreich - auch ohne Papiere - geben. Doch die Verwaltung will den Dokumenten, die seine Aufenthaltsdauer nachweisen, keinen Glauben schenken. Sie wurden von einer Initiative, für die der Mittvierziger seit über 15 Jahren arbeitet, ausgestellt und nicht von einer offiziellen Stelle.

Ein Algerier und ein Senegalese befinden sich zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres im Hungerstreik: Im Juni dieses Jahres hatten die Behörden ihnen die Legalisierung zugesagt. Seitdem ist nichts passiert. Der Algerier leidet noch an den Folgen seines letzten Hungerstreiks, und Schäden an den Nerven seiner Beine drohen, ihn dauerhaft zu lähmen.

Die Stimmen häufen sich, die eine umfassende Legalisierung all jener Sans-papiers fordern, die seit Juni 1997 - auf Aufforderung der Regierung hin, wie sie betonen - Papiere beantragt haben. Es sei zynisch und absurd, so sagen sie, die Betroffenen zunächst zu veranlassen, ihre Identität und ihren Aufenthaltsort offenzulegen, und sie hernach zurück in die "Illegalität" zu schicken. 55 Prozent der gut 140 000 Anträge sind von den Behörden akzeptiert worden, die übrigen wurden abgelehnt.

Seit März dieses Jahres gibt es daher in ganz Frankreich immer mehr Besetzungen und Hungerstreiks. Doch die Jospin-Regierung bleibt hart. Ihr Versuch eines politischen Spagats steht auf dem Spiel: Die Hälfte der Sans-papiers erhält Papiere, damit der linke oder humanitär denkende Teil der Öffentlichkeit beruhigt wird; der Rest wird abgelehnt und ein Teil davon abgeschoben, um den Autorität und Härte verlangenden Teil der Gesellschaft zufriedenzustellen.

Denn Jospin ist dabei, seine politische Karriere vollkommen auf das "große Datum" der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 auszurichten - wie die Rechtsopposition tagein tagsaus, und nicht ganz zu Unrecht, betont. Dann will Jospin als großer überparteilicher Einiger auftreten können.

Dabei wäre es nach einer am 20. November veröffentlichten Umfrage der Boulevardzeitung Le Parisien nicht einmal notwendig, gegenüber den Sans-papiers Härte zu zeigen, um in Frankreich populär zu bleiben. 45 Prozent sind demnach für die allgemeine "Legalisierung" aller Sans-papiers, die einen Antrag gestellt haben, 48 Prozent dagegen. Würde sich die Regierung offensiv für Großzügigkeit in dieser Frage einsetzen und die regierungsloyale "gemäßigte" Öffentlichkeit mitziehen, so wäre es kaum ein Problem, diese Angelegenheit ohne größeres Aufsehen zu erledigen.

Die Reaktionen der Regierung auf die Hungerstreiks sind indessen hart und unnachgiebig. Am 13. November wurden die Sans-papiers, die - mit Zustimmung des örtlichen sozialistischen Bürgermeisters - im Rathaus des Pariser Vororts Limeil-Brévannes untergekommen waren, am 74. Tag ihres Hungerstreiks geräumt. Ein beeindruckendes Angebot von Uniformierten wurde gegen die geschwächten elf Personen aufgeboten: 30 Zivilpolizisten, 60 CRS-Bereitschaftspolizisten und 40 Feuerwehrmänner.

Nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus beschlossen die Geräumten, dieses umgehend zu verlassen und ihren Streik fortzusetzen. Zwei Tage darauf wurde er abgebrochen. In diesem Fall hatten die Streikenden zwar die Nahrungsmittelaufnahme verweigert, aber neben Wasser auch Zucker und Vitamine zu sich genommen, um so lange durchhalten zu können.

Am 17. November griff die Polizei in Bordeaux ein, wo zehn Hungerstreikende am 70. Tag ihrer Aktion aus einer Kirche evakuiert wurden. In beiden Fällen machte die Regierung lediglich das Zugeständnis, den Betroffenen eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung für die Dauer von drei Monaten zu gewähren - damit sie die gesundheitlichen Folgen ihres Hungerstreiks auskurieren können. Im Falle der Sans-papiers von Limeil-Brévannes bestehen der Presse zufolge mündliche Zusagen gegenüber dem Bürgermeister, eine ein Jahr lang gültige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Innerhalb der Regierungskoalition der "pluralen Linken" hat die Behandlung der Sans-papiers-Problematik mittlerweile zu Reibereien geführt. Auf ihrem Parteikongreß Mitte November hatten die französischen Grünen sich für die unfassende "Legalisierung" aller Antragsteller auf Papiere ausgesprochen. Jospin attackierte in der darauffolgenden Woche im Parlament diejenigen innerhalb seiner Koalition, die "Unverantwortlichkeit" an den Tag legten und "einen Sog für neue Immigration" auslösten. Am letzten Dienstag sagte Jospin indessen auf Radio France-Inter zu, die abgelehnten Sans-papiers würden nicht systematisch abgeschoben; die sie betreffenden Dokumente, die anläßlich ihres Antrags auf "Legalisierung" angelegt wurden, würden vernichtet.

Der Chef der Gaullistenpartei RPR, Philippe Séguin, bezeichnete die Haltung des Premiers umgehend als "heuchlerisch": "Man sagt den Unglücklichen: Geht nach Hause, aber wenn ihr euch bei einer Polizeikontrolle erwischen laßt, dann seit ihr dran ..." Séguin sprach sich statt eines solchen Vorgehens, das einige Zehntausend Personen "illegal" im Lande lasse, dafür aus, den Abgelehnten eine letzte Frist von 18 Monaten einzuräumen, bevor sie zwingend in ihr jeweiliges Herkunftsland zurückkehren müßten. In dieser Zeit sollten mit den entsprechenden Staaten Verträge über die "soziale und ökonomische Wiedereingliederung" der Ausgewanderten abgeschlossen werden.

Didier Niel, Leiter des "Sektors Immigration" der CGT, hingegen setzte sich auf dem Anti-Rassismus-Kongresses der CGT für die vollständige "Legalisierung" sämtlicher Immigranten ein; dies sei "sowohl vom menschlichen als auch vom sozialen Standpunkt her zwingend". Denn wenn man "Zehntausende von Menschen in einer illegalen Situation beläßt, zwingt man sie damit auch zu illegaler Arbeit und trägt so dazu bei, die Beschäftigungsbedingungen für alle Lohnabhängigen in Frankreich zu verschlechtern".

Bernard Thibault, der seit den Streiks im Herbst 1995 höchst populäre Chef der CGT-Eisenbahner und wahrscheinliche Nachfolger des auf dem nächsten Kongreß im Januar 1999 ausscheidenden CGT-Generalsekretärs Louis Viannet, bekräftigte in einem Schlußwort am Freitagabend das Engagement der CGT gegen jegliche Diskriminierung von Immigranten mit oder ohne Papiere.

Eine Auseinandersetzung, die - wie nahezu jeder Redner während der zwei Kongreßtage betonte - zuallererst auch eine innerhalb der eigenen Reihen ist. Denn, wie Jean-Fran ç ois Courbe, Mitglied im Vorstand der UGICT (CGT-Gewerkschaft der höheren Angestellten) und einer der Vorreiter des antirassistischen Engagements der CGT, gegenüber Jungle World sagte: "Heute, wo bei uns offen diskutiert wird, wird sichtbar, daß zu dieser Frage alle gesellschaftlichen Strömungen - von klar antirassistischen bis hin zu rassistischen Positionen - auch bei uns vertreten sind. Aber wir sind entschlossen, diese Auseinandersetzung zu führen."