Das Verschwinden des Menschen

Überlegungen zu einer Politik der Menschenrechte.

Das Eintreten für die Menschenrechte versteht sich scheinbar von selbst. Auch ein Großteil der Linken setzt heute mehr und mehr auf die ehemals hinterfragten Prinzipien der "Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit". Gerade wenn kein anderer emanzipativer Bezugspunkt mehr geblieben ist, scheinen doch zumindest die bürgerlichen Versprechungen auf einem festen Fundament zu stehen.

Kritisiert wird dann höchstens der Staat, der die Menschenrechte je nach politischem Tagesgeschäft mal so, mal so anwendet, statt für ihre universelle Geltung einzutreten. Diese Versuche, den bürgerlichen Staat auf seine eigene Geschäftsgrundlage zu verpflichten, kommen jedoch an einigen den Menschenrechten immanenten Widersprüchen nicht vorbei.

Das entscheidende Problem ist, daß die Menschenrechte von einem "Menschen" ausgehen, der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nirgendwo vorzufinden ist. Das Konzept der Menschenrechte konstruiert einen "ideellen" Menschen, dem angeblich vorstaatliche und vorgesellschaftliche Rechte zukommen, und abstrahiert damit vom "materiellen" Menschen, der eingebunden ist in Klassen oder soziale Schichten, der Mann ist oder Frau, der eine Hautfarbe hat und der vor allem Staatsbürger, Ausländer oder Staatenloser ist.

Verfolgen wir den Begriff des Menschen, der der Konzeption der Menschenrechte zugrunde liegt, durch seine Geschichte, so sehen wir, daß hier zwei Entwicklungen stattfinden: zum einen vom konkreten zum abstrakten Individuum und zum anderen vom vorstaatlichen zum staatsgebundenen Menschenrecht, das Staatsbürgerrecht ist.

Menschenrechte sind Ausfluß des Naturrechts. Mit ihm wird versucht, philosophisch ein Recht des Menschen zu begründen, das vor aller positiven Rechtsprechung liegt. Das Naturrecht ist also apriorisch existentes Recht. Recht, das entweder aus der göttlichen Ordnung oder aus dem "natürlichen" Wesen des Menschen abgeleitet wird, das aber gesellschaftlichem Einfluß entzogen bleibt.

Im Naturrecht wie später im Menschenrecht geht es um den natürlichen Menschen, den Menschen an sich, und nicht um den vergesellschafteten Menschen. Ihm bzw. seiner bloßen Existenz sollen bestimmte Rechte zukommen, die jedoch nur durch ein ihm äußerliches Wesen, den Staat, durchgesetzt und garantiert werden können. Das Naturrecht bildete eine Schranke, die nicht von der Gesellschaft gesetzt, sondern in der Natur gefunden wurde und die sich gegen die "unkontrollierte Mobilisierung und Dynamisierung der natürlichen Produktionsbedingungen" richtete. Das Naturrecht in seiner vorbürgerlichen Fassung verweist so auf eine Gesellschaftsform, in der die Naturbeziehungen dominierend bleiben.

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Das ändert sich mit dem Vernunftrecht der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Hier spielt zum ersten Mal die Vorstellung von den unhintergehbaren Rechten eines jeden Menschen eine Rolle. Der Geist, die Vernunft, erhebt sich aus dem Naturzustand und schafft sich ihr bzw. sein eigenes Recht, das durch den Staat garantiert wird. Natur hat so einen gänzlich anderen Charakter: Aus einer (göttlich) vorgegebenen Ordnung, die angeschaut werden konnte, wird eine Ordnung, die mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hergestellt wird. "Der Geist aber reißt sich von der Natur los und erzeugt sich seine Natur, seine Gesetze selbst." (Hegel)

Hintergrund für den Wandel vom vorbürgerlichen zum bürgerlichen Naturrecht ist die sich ausbildende kapitalistische Produktionsweise. In ihr wird die traditionelle Dominanz der Naturbedingungen gesprengt. Die Menschen emanzipieren sich somit zwar von ihren natürlichen Existenzgrundlagen, die mit dem Kapitalverhältnis konstituierte "zweite Natur" stellt nun aber den gesellschaftlichen Zusammenhang hinter dem Rücken der Individuen her.

In der Erklärung der Menschenrechte heißt es: "Die Menschen sind frei und gleich an Rechten." Rechtlich gleich und nicht von Natur aus gleich, so transformiert sich die Gleichheit unter der ersten Konstituante 1789. Das Recht wird nicht mehr auf die Natur gegründet, sondern stillschweigend von ihr abgelöst. Das vorstaatliche Recht wird zum Recht, das an den Staat gebunden ist. Kaum waren daher die Rechte des Menschen proklamiert, wurden sie bereits wieder eingeschränkt und in solche des Staatsbürgers gegossen.

Die Versuche, die außergesellschaftliche Dimension des "natürlichen Individuums" zu bewahren, scheitern in dem Moment, wo dieses mit der Ausbildung kapitalistischer Produktion selbst zur Disposition des politischen Souveräns gestellt wird. Ist die "natürliche Seite", das Gattungswesen, erst einmal den nationalen Regierungen zur Verwaltung überlassen, verkommen Grund- und Menschenrechte zu wenig mehr als Loseblattsammlungen, die von der gesellschaftlichen Dynamik beständig zu Makulatur gemacht werden.

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Wie erst vor kurzem durch die Verabschiedung des "Großen Lauschangriffs" wird aus dem "Recht der Unversehrtheit der Wohnung" eine Kann-Bestimmung, die je nach politischem Gusto außer Kraft gesetzt wird. Sie sind nicht mehr Bestandteil einer unveräußerlichen Natur, sondern variables Mittel - entweder zur Stabilisierung von Herrschaft oder aber zu ihrer Abwehr.

Die politische Seite dieses Abstraktionsprozesses vollzieht der Staat. Die Menschenrechte meinen nicht den einzelnen Menschen, mit seinen Macken und Bedürfnissen oder Vorlieben, sondern den "Menschen an sich", der nur dadurch entstehen kann, daß von all seinen Besonderheiten abstrahiert wird. Gleich ist der von jeglicher Individualität und Unverwechselbarkeit befreite Mensch nur vor dem Gesetz; hier ist er ohne Ansehen seiner Person Rechtssubjekt; nur in der "Vergleichung" durch das Recht existiert die Gleichheit der Individuen.

Daher erscheint die bürgerliche Gesellschaft an ihrer Oberfläche als "ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte" (Marx). Dieser reale Schein basiert auf den permanenten Austauschakten (oder Verträgen), die die scheinbare Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhangs bilden. Ob Banker, Wurstverkäufer oder Fabrikant - sie alle sind Warenbesitzer, die sich im Austauschprozeß als Gleiche anerkennen, und zwar nicht über Gewaltdiktate, sondern in freier Übereinkunft - falls nicht, hilft der Staat als Gewaltmonopolist und Hüter des Vertragswesens etwas nach.

Nun kann jedoch nicht einfach die Gleichheit auf der Ebene des Politischen und des Austauschs gegen die Ungleichheit in der Produktion ausgespielt werden. Das Gegenteil ist der Fall: Die politische Gleichheit ist das Pendant der Ungleichheit im kapitalistischen Betrieb. Dieser konstituiert sich nämlich durch die doppelte Freiheit des Lohnarbeiters: Er ist einerseits frei von feudalen Abhängigkeiten, aber auch frei von Produktionsmitteln. Er unterliegt deshalb dem Zwang, sich der Despotie der Fabrik zu unterwerfen, um seine Ware Arbeitskraft zu verkaufen.

Auch wenn keine handfeste Gewalt im Spiel ist, bedeutet diese Form der Vergesellschaftung Repression: Freiheit ist bestimmt als Freiheit von den empirischen Bedingungen der Existenz, die Gleichheit als repressives Absehen von jeglicher Besonderheit.

Vor diesem Hintergrund besorgt der Kampf um Emanzipation unter Bezugnahme auf die Menschenrechte nur den Staatsauftrag, der darin besteht, für die Gleichberechtigung und gegen die Diskriminierung zu kämpfen und alles, was der Logik der Verwertung entgegensteht, zu beseitigen. Der Staat als Exekutor der Menschenrechte existiert in der Form der Nation und organisiert den Ausschluß aus derselben, indem die Menschenrechte als Staatsbürgerrechte buchstabiert werden.

Was diese Situation für nationale Minderheiten und Staatenlose bedeutet, hat Hannah Arendt schon 1951 beschrieben: Keine dieser Menschengruppen kann ihrer Menschenrechte sicher sein, wenn diese nicht durch einen Staat geschützt werden. Heute wird demgegenüber wieder ein "Spannungsverhältnis zwischen Staat und Menschenrechten" (Alex Demirovic) ausgemacht und das pragmatische Argument in Anschlag gebracht, es gebe - was die Exekution der Menschenrechte angehe - einen wesentlichen Unterschied zwischen autoritären und demokratischen Regimen. Auch wenn menschenrechtliche Norm und staatliche Praxis nicht übereinstimmten, so bestimme doch auch die Norm die gesellschaftliche Praxis und eröffne somit in demokratischen Gesellschaften spezifische Freiheitsgrade.

Alex Demirovic proklamiert dazu emphatisch: "In den Menschenrechten äußert sich ein, wenn auch beschränkter, Aspekt des modernen, individuellen Freiheitswillens, auf dem von ihnen angezeigten Vergesellschaftungsniveau können sich die Individuen weltgesellschaftlich entfalten".

Das mag für Staatsbürger noch bedingt gelten. Betrachtet man jedoch die Situation von Flüchtlingen, so stellt sich die Frage, ob sich für sie unter Bezug auf die Menschenrechte wirklich ein größerer Handlungsspielraum eröffnet. Der moderne Flüchtling hat nicht nur seine Wohnung und den Schutz einer Regierung verloren. Er ist insbesondere rechtlos, weil er unschuldig ist. "Die modernen Flüchtlinge sind nicht verfolgt, weil sie dies oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern auf Grund dessen, was sie unabänderlicherweise von Geburt sind - hineingeboren in die falsche Rasse oder die falsche Klasse oder von der falschen Regierung zu den Fahnen geholt (...) Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach niemals sein darf: Er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte." (Hannah Arendt)

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Problematisch ist in diesem Sinne auch die Basis des heutigen Asylrechts. Es beruht auf der Annahme individueller Freiheitsrechte, die es gegen staatliche Willkür zu verteidigen gilt. Geschlechtsspezifische Fluchtgründe oder die Flucht vor nicht-staatlicher Verfolgung werden in der Regel nicht anerkannt. Wenn aber nur staatliche Verfolgung "anerkennenswerte" Verfolgung ist, haben "unschuldige Opfer" ihre Probleme. So Frauen, die verdächtigt werden, durch vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr die "Familienehre" beschmutzt zu haben, und von männlichen Familienangehörigen mit dem Tod bedroht werden. "Private" Gewalt wird als Verfolgungsgrund nicht anerkannt, die Verfolgung muß immer vom Staat ausgehen. Wird sie zudem im Kontext besonderer kultureller Traditionen als "landesüblich" gewertet, erledigt sich ein Asylantrag von selbst.

Die Änderung des Grundrechts auf Asyl ist dabei ein Beispiel dafür, daß Menschenrechte nur als Bürgerrechte zur Geltung kommen, die keineswegs mehr für alle gelten. Mit der "Drittstaatenregelung" und dem "Flughafenverfahren" wird geklärt, ob die Flüchtlinge überhaupt zum Asylverfahren zugelassen werden. Der Aufenthalt in der staaten- und damit rechtsfreien Zone bedeutet nicht nur die Aberkennung des allgemeinen Asylrechts, sondern darüber hinaus eine Sonderbehandlung ganz eigener Art: Ohne eine Straftat begangen zu haben, unterliegen die Flüchtlinge dabei haftähnlichen Bedingungen - oft monatelang.

Der Zustand von Rechtlosigkeit, dem heute Bürgerkriegsflüchtlinge ausgesetzt sind, läßt sich mit dem Verlust partikularer Rechte (Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit, Recht auf Eigentum etc.) nicht fassen. Die Menschenrechte beziehen sich auf eine gegebene nationale Gesellschaft, aus der Flüchtlinge ausgeschlossen sind.

Wo es zudem keinen "Menschen an sich" gibt, ist die Forderung, ihn mit Rechten auszustatten, im besten Fall naiv. Damit soll die Arbeit derer, die für individuelle Abwehrrechte gegen repressive staatliche Maßnahmen streiten, nicht denunziert werden. Mit der Befreiung von Verhältnissen, in denen "der Mensch" ein unterdrücktes, geknechtetes und verächtliches Wesen ist, hat Menschenrechtspolitik allerdings wenig zu tun.

Der Beitrag von Christine Parsdorfer ist redaktionell gekürzt worden. Die vollständige Fassung ist im Oktober in den blättern des iz3w erschienen.