Von Kabul nach Pristina

Die Menschenrechte haben die Linken und Deutschland versöhnt.

Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" wurde von den Siegern des Zweiten Weltkrieges initiiert, die damit auf die beispiellosen Verbrechen reagierten, die Deutsche zwischen 1933 und 1945 geplant und begangen hatten. Die Bundesrepublik mußte sich den Katalog der Zugeständnisse ans menschliche Individuum ins Grundgesetz schreiben, wo er das Verbot der KPD, den Aufbau der Bundeswehr, die Gründung der Bundesliga und die Verabschiedung der Notstandsgesetze unbenutzt überdauerte.

Fast unbenutzt: In der Debatte um die in der DDR lebenden Landsleute wurden die Menschenrechte häufig zitiert, allerdings nur mit jenem Maß an Nachdruck, welches für die an einer Wiedervereinigung nicht interessierten westlichen Alliierten hinnehmbar war. Andere Staaten dagegen, die der Briten und Franzosen etwa, hatten mit den Menschenrechten handfeste Probleme: In ihren afrikanischen und anderen überseeischen Besitzungen hatten sich - teils bewaffnete - Bewegungen gebildet, die (u.a.) mit Hinweis auf die Menschenrechtserklärung die Beendigung des Kolonialregimes forderten.

Auch die USA mußten sich mit der Menschenrechtsfrage auseinandersetzen: Um schwarzen Studenten erstmalig den Zugang zu den Universitäten zu ermöglichen, ließ die Regierung in den sechziger Jahren die Nationalgarde gegen demonstrierenden Apartheids-Pöbel aufmarschieren.

Realpolitisch bedeutsam wurden die Menschenrechte für die Bundesrepublik erstmals, als - etwa zeitgleich mit der Einführung von Berufsverboten für Linksradikale - die Sozialdemokraten unter Willy Brandt mit ihrer neuen Ostpolitik begannen. Unter dem Leitmotiv "Wandel durch Annäherung" wurde nicht nur der Handel mit dem sowjetischen Block intensiviert, sondern auch der sogenannte Helsinki-Prozeß eröffnet.

Das Herder-Lexikon Politik faßt diese Entwicklung sehr anmutig zusammen: "KSZE, Abk. für Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Konferenz der Außenminister aller europ. Staaten, der USA und Kanadas seit 1973. Unterzeichnung der Schlußakte am 1. August 1975 in Helsinki. Aufstellung von Regeln für die Beziehungen zwischen Staaten sowie zwischen ihnen und ihren Bürgern (europ. Sicherheit, vertrauensbildende Maßnahmen, Zusammenarbeit in humanitären Angelegenheiten und Menschenrechtsfragen, Zusammenarbeit in Wirtschaft, Technik und Umwelt). Das dritte u. bisher erfolgreichste Folgetreffen in Wien endete am 15. Januar 1989 und war ein weiteres Zeichen für den von Michail Gorbatschow betriebenen Reformkurs: Erfolge v.a. im Bereich Menschenrechte und Grundfreiheiten." In Moskau hatte man seinerzeit vor allem an Kredite und Warentausch gedacht, die zugehörigen Dissidenten und Bürgerrechtler mußte und wollte man in Kauf nehmen. Anders ausgedrückt: Zu Beginn des Helsinki-Prozesses war der Sowjetblock in der Defensive, an seinem Ende existierte er nicht mehr. Blöd gelaufen.

So ergab sich zu Beginn der neunziger Jahre eine ziemlich bizarre Bilanz: Die Sieger des Zweiten Weltkrieges, die die Menschenrechtserklärung initiiert hatten, sahen diese alsbald gegen sich gekehrt und wurden allesamt mit kostspieligen Forderungen und peinlichen Vorwürfen konfrontiert, die erhebliche Auswirkungen auf den Gang der Innen- und Außenpolitik hatten. Derweil blieben die eigentlichen Adressaten der Belehrung - von überall vorkommenden "Einzelfällen" abgesehen - vierzig Jahre lang menschenrechtlich unbescholten. Während also die Gesellschaften zumindest der westlichen Weltkriegssieger von inneren - aus der Menschenrechtsproblematik resultierenden - Konflikten erschüttert wurden, standen die Deutschen im Beschweigen der eigenen Vergangenheit zusammen und gaben sich selbst auch noch den Auftrag, die Menschenrechte hinaus in die Welt zu tragen; zumindest dorthin, wo der Kommunismus drohte oder bereits herrschte.

Seit der Wiedervereinigung hat es der Rest der Welt nun mit einer Großmacht zu tun, die im Einsatz für Menschenrechte ihresgleichen sucht, aber nicht finden wird. Denn wo immer die Konkurrenz klassisch, kleinlich und wahrheitsgemäß mit ihren nationalen Interessen ankommen - die Deutschen, mit Moral und Menschenrechten, sind schon da.

Diese Entwicklung war nur möglich, weil die hiesige Linke mitspielte. Wo die Menschenrechte in Theorie und Praxis vorkamen, ging es - an Stelle einer Analyse der strategisch-durchgängigen Instrumentalisierung der Menschenrechte für die Politik marktwirtschaftlicher Expansion - meist darum, die Politik am Ideal zu blamieren.

Das Schema: Wer Moskau und Peking kritisiere, zur südafrikanischen Apartheid und zum chilenischen Pinochet-Regime aber schweige, sei unglaubwürdig. Die Antwort aus Bonn klang vertraut. Wer die Diktatoren das freien Westens kritisiere, ohne die kommunistischen Regimes in den Blick zu nehmen, sei unglaubwürdig.

Gegen Ende der siebziger Jahre wer eine Einigung möglich. Wer in der BRD damals ein ernsthaftes Anliegen hatte, war Mitglied der "Ökologie-", "Dritte-Welt-", "Alternativ-" oder der "Hausbesetzerbewegung". Die Sortierung stammt vom grünen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, der in einem jüngst erschienenen Rückblick auf die Geschichte grüner Außenpolitik prägnant rekapituliert, wie das Projekt einer vom ganzen Volke getragenen und nach außen gerichteter Menschenrechtspolitik in Gang kam.

Erstens: Die Bewegungen vereinten sich zur "Friedensbewegung", die in ihrem Hauptteil von der Vorstellung getrieben war, der BRD drohe ein "atomarer Holocaust". Zweitens: Die Bewegungen "verstanden sich als engagierter Kern einer heraufkommenden emanzipierten Zivilgesellschaft" (Volmer). Drittens: Der bis dahin vornehmlich gegen die USA gerichtete Antiimperialismus wurde "seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 von einer massiven Kritik an der Außenpolitik Moskaus ergänzt" (Volmer).

Mit dieser Form der Ausgewogenheit, die jeder Forderung nach Frieden, Abrüstung und Menschenrechten usw. das obligatorische "in Ost und West" zufügte, konnten alle leben. Die Kritik der "Blockkonfrontation" zwischen den "Supermächten" blühte auf, Westdeutschland kam hier als Opfer, als Fußnote oder gar nicht vor. Ein Prozeß, der die Mentalität der damaligen Linken auf das heutige Maß der Regierungsbeteiligung brachte. Kaum war die Blockkonfrontation beendet, meldete das damit von allen Souveränitätsrestriktionen befreite Deutschland offiziell eine Führungsrolle an.

Die Linken der oben genannten Bewegungen waren dabei. Wie auf Kommando artikulierten sie Anfang der neunziger Jahre Manifeste der Zivilgesellschaft, die folgendes auszeichnete: Sie klangen furchtbar kämpferisch, standen aber in Opposition nur zu einem kleinen Rest von Linksradikalen. Sie beschäftigten sich mit militärischen Interventionen in aller Welt und sie bezogen sich dabei durchweg auf die Menschenrechte.

Im Dezember 1990 war in der Dritte-Welt-Zeitschrift Peripherie zu lesen, "in Osteuropa" kämen nun "neue Modelle und Werte einer zivilen Gesellschaft zum Tragen", "Werte wie Durchsetzung der Menschenrechte und Demokratisierung" seien dort "auf einmal sehr präsent". In einem anderen Artikel derselben Ausgabe heißt es unter der Überschrift "Universelle Werte und internationale Zivilgesellschaft" kategorisch: "Das Eintreten für Freiheits- und Menschenrechte auf internationaler Ebene ist ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten schlechhin unmöglich."

In der Folge verstaatlichte sich ein großer Teil der ehemaligen Dritte-Welt-Bewegung unter dem stolzen Titel "Nichtregierungsorganisation" fast vollständig, gleichzeitig gab es Krieg in Jugoslawien. Der Ton der Zivilgeschaft wurde schärfer, ihre philosophisch untermalten Gesellschaftsmodelle wichen der schnöden Forderung nach "Demokratie und Marktwirtschaft". Je näher die Ministersessel für ehemalige Bewegungsaktivisten kamen, desto mehr mühte sich die befreundete Politikwissenschaft um menschenrechtlich grundierte Optionen für eine Außenpolitik, die mit den Ansprüchen des traditionellen Establishments vereinbar ist.

Zu besprechen sei heute, erklärte der Politologe Ulrich Menzel vor kurzem, ob "das Souveränitätsgebot gegenüber dem Menschenrechtsgebot nicht als geringer zu erachtendes Rechtsgut anzusehen ist, mithin unter bestimmten Umständen humanitär begründete Interventionen von außen grundsätzlich legitim sind". Was aber sind bestimmte Umstände?

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