Hausse und Baisse am Berg

Ein Beitrag zur Beantwortung der Frage: Was will der Maier am Himalaya?

So ganz verwegen erscheint es nicht, vom gerade zu Ende gehenden Jahr 1998 als einem deutschen Everest-Jahr zu sprechen. Indizien dafür sind eine Vielzahl von Büchern auf dem deutschen Markt: Jon Krakauers "In eisige Höhen" wurde im Frühjahr auf deutsch vorgelegt und sofort zum Bestseller. Die darin enthaltenen Vorwürfe gegen Anatoli Boukreev, der eine Expedition, bei der am 10. Mai 1996 zwölf Menschen am höchsten Berg der Erde umkamen, leitete, versucht Boukreev in seinem Buch "Der Gipfel" zu entkräften.

Auch in Peter Gillmans Bildband "Everest" wird auf die Katastrophe vom Mai 1996 eingegangen, obendrein gibt es mindestens drei weitere Buch-Neuerscheinungen, zudem sind etliche Filme angelaufen, vor allem der zur Zeit in den Imax-Kinos der Republik zu sehende "Everest" von David Breashears. Im Sommer zeigte ProSieben einen Spielfilm, der auf Krakauers Geschichte basiert.

Im Frühling 1996 stiegen insgesamt 14 Expeditionen, davon etwa die Hälfte kommerziell organisiert, auf den Mount Everest, mit 8 848 Metern höchster Berg dieser Erde. Rein bergsteigerisch gilt der Everest als nicht sehr schwierig, die Besonderheit, die ihn auszeichnet und doch für eine Besteigung so schwierig macht, entsteht durch seine Höhe: die Luft ist extrem dünn, so daß die Sauerstoffzufuhr für das Gehirn nicht funktioniert, das Denken ist erschwert, jeder einzelne Schritt schmerzt, für die Distanz von hundert Höhenmetern bei seichtem Anstieg benötigen selbst austrainierte Alpinisten mehrere Stunden. Zudem vollziehen sich schnelle, unvorhersehbare Wetterwechsel, die überall im Gebirge auftreten können, am Everest noch wesentlich schneller. Innerhalb von nur einer Stunde kann sich ein klarer Himmel, an dem keine einzige Wolke zu erblicken ist, verdunkeln und ein Schneesturm entstehen.

Der Everest-Run im Mai 1996 endete in einer Katastrophe: Zwölf Menschen kamen um, darunter mit dem Neuseeländer Rob Hall und dem US-Amerikaner Scott Fischer die Inhaber der beiden größten Everest-Firmen. Ein Wetterumschwung, zu späte Umkehrzeiten, Unerfahrenheit vieler Bergsteiger bei schwierigen und vereisten Stellen, Verlangsamung des Bergsteigertempos durch Staus, weil zu viele Menschen an diesem 10. Mai 1996 auf den Gipfel wollten - all das wird als Ursache für den Tod der Bergsteiger genannt. Sie alle erfroren, die Überlebenden erlebten es bewußt mit und konnten es nicht verhindern.

Seither sind solche kommerziellen Expeditionen, die es erst seit den neunziger Jahren gibt, scharfer Kritik ausgesetzt. Jon Krakauer, der als Journalist die Expedition von Rob Halls Adventure Consultants begleitete, beschreibt sehr detailliert die ökonomische Konkurrenz, die zwischen den Firmen herrschte, und er berichtet von den bergsteigerischen Mängeln etlicher Expeditionsteilnehmer. Anatoli Boukreev, ein russischer Alpinist, der als Bergführer von Scott Fischers Mountain Madness Expedition angeheuert wurde, widerspricht diesem Punkt in Krakauers Beschreibung nicht. Er sieht die Mängel eher bei den im Schnitt älteren Teilnehmern von Adventure Consultants als bei den von ihm betreuten Kunden. Die Teilnahme an einer solchen Everest-Expedition kostete damals bei Rob Hall, der in seinen Anzeigen mit seiner "100 percent success rate" warb, 65 000 Dollar, bei Scott Fischer, der noch nicht so lange im Geschäft war, etwa 50 000 Dollar. Die Kunden von Hall und Fischer waren bis auf wenige Ausnahmen Vertreter der gesellschaftlichen Gruppe, die man gemeinhin als Oberschicht bezeichnet: eine Millionärin aus New York, die auch als Journalistin arbeitete, ein Arzt, eine Personalchefin eines japanischen Großunternehmens, ein Verleger etc.

Der Streit, der zwischen Krakauer und dem 1997 bei einer Lawine am - dem Everest benachbarten - Annapurna (8 091 Meter) umgekommenen Boukreev geführt wurde und der in ihren Büchern nachlesbar ist, sowie der Streit, der mit ähnlichen Argumenten in dem Fachblatt Outside zwischen Krakauer und dem Sherpa Lopsang Jangbu ausgetragen wurde, behandeln im Grunde nur Details der Katastrophe: Lopsang und Boukreev weisen Vorwürfe zurück, sie hätten sich unprofessionell und egoistisch verhalten.

Offenbar wird dabei die unterschiedliche Wahrnehmung des Berufs Bergführer, die Krakauer einerseits und die beiden Profis andererseits haben. Für Krakauer, der als Journalist auf der Seite der Kunden stand, hat ein Bergführer dafür zu sorgen, daß die Kunden, auch wenn sie technisch nicht genügend beschlagen sind, auf den Berg kommen. Wenn eine Notlage auftritt, muß der Bergführer unter Einsatz seines eigenen Lebens die Kunden wieder nach unten geleiten.

Für Boukreev und Lopsang hingegen hat der Bergführer den Kunden mit seiner Erfahrung beizustehen, und er hat beispielsweise durch das Anbringen von Fixseilen und Leitern oder das Spuren einer verschneiten Strecke, den Kunden den Weg zu erleichtern. Von der immensen Selbstverantwortung für das eigene Handeln hat der Bergführer, wenn es auf Achttausender geht, die Kunden nicht zu befreien. Ob die unterschiedlichen Ansichten über die Aufgaben eines Bergführers eine Teilerklärung der Katastrophe, die sich am 10. Mai 1996 am Everest ereignet hat, bedeuten kann, ist unklar.

Häufiger wird eine andere genannt: Die Kunden hätten "zu Hause Hochleistungskarrieren unterbrochen, um in der mystischen Gegenwelt Nepals eine Sinnkrise in der Lebensmitte zu bewältigen", hieß es beispielsweise im Spiegel. Die Zeitschrift Geo sprach von "'Bergunternehmern', die den Job haben, ihre betuchten Kunden auf den Gipfel zu bringen - manchmal sogar mit rücksichtsloser Gewalt, und oft mit tödlichen Folgen." Und Reinhold Messner, weltweit einer der besten Bergsteiger, schimpfte in der Zeitung des Deutschen Alpenvereins auf den massenhaften Drang, "alles auf die Spitze treiben zu müssen, bis der Stau des Mittelmaßes am Gipfelgrat des Mt. Everest zur Perversion des Bergsteigens und gleichzeitig zur Todesfalle wurde."

Messner sieht am Everest schon den "Highway zum Gipfel", den man im Reisebüro buchen könnte. Was beim Spiegel noch als Spleen zu reicher Menschen erscheint, wird von Messner sehr genau beschrieben: "Die höchsten Werte der Alpinistik - einst von selbsternannten Idealisten definiert - sind übers Jahrzehnt zum Konsumartikel verkommen."

Wie Messner weiß auch Krakauer, daß es das angeblich so natürliche Bergsteigen nicht gibt und daß es zu billig wäre, einfach auf die Massen zu schimpfen, die das tun, was man selbst auch tut. "Es gibt etwas Verwirrendes und Schockierendes bei der gegenwärtigen Kommerzialisierung des Everest, aber vielleicht sollte das nicht sein", erklärte Krakauer 1997 in einem Interview mit der Fachzeitschrift Outside. "Der Sport des Bergsteigens wurde von reichen Engländern erfunden, die Menschen, die in den Bergen lebten, anheuerten, damit sie ihnen die Alpen zeigten, die Drecksarbeit machten und sie vor Gefahren bewahrten. Es gibt eine lange Tradition von geführten Klettertouren - wer bin ich, daß ich behaupten könnte, das alles wäre dann falsch, wenn es am höchsten Berg dieser Erde geschieht?"

Bergsteigen, wegen seiner Anfänge in den europäischen Alpen überall auf der Welt mit dem Sammelbegriff Alpinismus belegt, ist Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und folglich sowohl mit ihr gewachsen als auch ihren Entwicklungsgesetzen gehorchend. Die tendenzielle kapitalistische Durchdringung aller gesellschaftlichen und natürlichen Bereiche macht eben auch vor dem höchsten Berg der Erde nicht halt.

Kaum sind nämlich in Europa die Alpen und in Amerika die Anden und die Rocky Mountains derart massenhaft erobert, so daß sie einer weiteren kapitalistischen Verwertung nur dienlich sein können, wenn diese intensiviert wird, wenn also ihre geologische Substanz umgemodelt wird - Hotelbauten, Freiluftkonzerte auf Gletschern, für Skipisten in den Wald gehauene Schneisen und Straßen bis hin zum Gipfel -, dann wartet als nächster Schritt die Expansion in andere Gegenden.

Das entspricht bürgerlicher Normalität und wäre an sich nicht weiter erwähnenswert, käme nicht die Ideologie hinzu: der unbändige Drang mancher Zeitgenossen nämlich, dem derart vergesellschafteten Berg etwas Menschliches anzuhängen. Der Berg fordere Respekt, kann man lesen: "Die Natur verlangt ihr Pfand zurück", wie der Schriftsteller Haston notierte, oder aber, in Luis-Trenker-Manier "Der Berg ruft!"

Ein wundersamer Kontrast ist zu bemerken: Von früheren Gesellschaften wird oft - und gerne mit einem Anflug von Arroganz - berichtet, sie hätten ihre Vorstellungen von Gottheiten einfach aus der Beobachtung natürlicher Phänomene, die ihnen nur unerreichbar waren, gewonnen; das gilt als naiv und überwunden. Gleichzeitig aber wird genau dies dem Mount Everest noch angedichtet: je mehr Bücher über den Everest erscheinen, um so häufiger. Das von Marx in der Kritik der Religion beschriebene "Jammertal" scheint als Gegenstück den Jammergipfel zu besitzen, ein Berg, der menschliche Sehnsucht nach Naturbeherrschung verkörpert, ein Naturereignis, das sich der Mensch untertan machen möchte.

Ökonomisch betrachtet haben durch ihren qualvollen Tod am 10. Mai 1996 die beiden Marktführer auf dem Gebiet der kapitalistisch organisierten Everest- Besteigung ihre Geschäftstätigkeit eingestellt. Sehr wohl aber wird die Domestizierung des größten Berges der Welt weitergehen, wogegen auch nichts zu sagen ist, denn mit der weiteren Vergesellschaftung des Himalaya findet auch die weitere Entschleierung seines angeblich göttlichen Charakters statt.