Kernspaltung im Kabinett

Entschädigungen, Dementis und ein Endlager: Der Streit um den Atomausstieg wird ins neue Jahr vertagt

Mit einer Überraschung begann die dritte Adventswoche für den grünen Umweltminister Jürgen Trittin: Zum ersten Sondierungsgespräch zwischen Regierung und den Vorstandschefs der Energiekonzerne RWE, Veba, Viag und Energie Baden-Württemberg lud der Bundeskanzler seinen Umweltminister einfach nicht ein. Lediglich Wirtschaftsminister Werner Müller und Gerhard Schröder selbst saßen mit den Atombossen am Tisch, als Anfang letzter Woche über Restlaufzeiten, mögliche Schadensersatzforderungen der Betreiber und die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennstäben beraten wurde.

Nachdem in der vorhergehenden Woche erste Einzelheiten aus Trittins Atomgesetznovelle bekannt geworden waren, hatten die Chefs der Stromkonzerne schon mit dem Scheitern der im Januar beginnenden Energiekonsensgespräche gedroht. Schröder setzte auf Besänftigung. Mit Erfolg: "Alle Beteiligten sind bereit, sich zu einigen", konnte er nach dem Gespräch verkünden.

Der Spiegel legte in seiner jüngsten Ausgabe einen drauf: Schröder und die Betreiber hätten sich bereits auf ein Ausstiegsszenario geeinigt. Danach sollen bereits in der laufenden Legislaturperiode zwei der älteren Reaktoren stillgelegt werden. Auch Schröders Hauptforderung im Streit mit Trittin, den Ausstieg entschädigungsfrei abzuwickeln, sei von den Atombetreibern akzeptiert worden. Im Gegenzug freilich soll ihnen der Kanzler eine Restlaufzeit von 20 Jahren zugesichert haben. Dann soll das letzte AKW abgeschaltet werden.

Zwar dementierten Schröder wie Müller den Bericht. Und auch Heinz Klinge, der Präsident der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), verkündete, daß sich die Betreiber niemals mit 20 Jahren zufrieden geben würden. Für das Szenario aber spricht, daß am Wochenende auch das Umweltministerium Einlenken signalisierte: "Über ein solches Angebot, das wir offiziell immer noch nicht kennen, kann in den Konsensgesprächen verhandelt werden", sagte Michael Schroeren, der Sprecher des Umweltministeriums.

Der Streit, der Schröder jetzt veranlaßte, die Betreiber zu beruhigen, währt seit etwa einem Monat. Damals hatte Trittin die "punktgenaue" Umsetzung des Koalitionsvertrages in der Änderung des Atomgesetzes angekündigt. Dieser sieht eine "Beschränkung der Entsorgung auf die direkte Endlagerung", also ein Verbot der Wiederaufarbeitung, vor. Um ein solches Verbot in der Atomgesetz-Novelle festzuschreiben, forderte Trittin die Betreiber auf, ihm die Verträge mit den Wiederaufarbeitungsfirmen in Frankreich und Großbritannien vorzulegen - für den Fall der Weigerung drohte er mit dem Entzug der AKW-Betriebsgenehmigungen.

Trittin beruft sich auf eine Klausel in den Verträgen, die bei einem gesetzlichen Verbot der Wiederaufarbeitung - also einem Fall "höherer Gewalt" - die Vertragspartner auch bei laufenden Verträgen dazu zwingt, von Regreßforderungen Abstand zu nehmen. Seitdem konzentriert sich die Kritik der Betreiber an dem Verbot der Wiederaufarbeitung auf neue Gesichtspunkte. Vordergründig scheint der sofortige Aufarbeitungs-Stopp für die deutschen AKW-Betreiber rentabel, denn die Castor-Behälter vor der eigenen Tür zu parken, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, ist billiger, als sie zur aufwendigen chemischen Aufarbeitung nach Sellafield oder La Hague zu schicken. Allerdings zahlen die Betreiber die Wiederaufarbeitung mit Mitteln aus Rückstellungen, die sie von der Steuer absetzen können. Würde die Wiederaufarbeitung, wie von Trittin gewünscht, sofort verboten, müßten die Konzerne rund zwei Milliarden Mark versteuern.

Die Cogema, die in Frankreich die Wiederaufarbeitung betreibt, interpretiert die Verträge anders als Trittin. Sie droht für den Fall, daß die deutschen Vertragspartner aus den - bis zum Jahr 2005 gültigen - Verträgen aussteigen, mit Schadensersatzklagen im Umfang von knapp zwei Milliarden Mark. Begründet werden solche Forderungen mit dem im EU-Recht garantierten Waren- und Dienstleistungsverkehr. Zugleich kündigte die Cogema an, den Atommüll aus Deutschland - in der Größenordnung von 50 bis 60 Castor-Behältern - wieder zurückzuschicken, sollten sich Trittins Pläne durchsetzen. Neben der Wiederaufarbeitung sind aber noch weitere Teile des geplanten Atomgesetzes strittig, so vor allem die geplante Streichung des Förderungszwecks. Hier steht für die Betreiber eine weitere Milliarde Mark auf dem Spiel. Otto Majewski, Vorstandsvorsitzender der Bayernwerke, drohte Finanzminister Oskar Lafontaine deshalb bereits vor zwei Wochen im Namen aller Atomkraftwerksbetreiber mit einer Verfassungsklage.

Darum bemüht, Trittins Atomnovelle mit allen Mitteln zu verhindern, hat auch das Bremer Energie-Instituts vergangene Woche eine Studie vorgelegt. Die von der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) in Auftrag gegebene Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß bei einem - selbst von den Grünen nicht mehr geforderten - Ausstieg bis Ende 2004 Kosten in Höhe von 88 Milliarden Mark anfielen. Außerdem sei mit einem drastischen Anstieg der Kohlenstoffdioxid-Emissionen zu rechnen.

Die Studie unterstellt darüber hinaus Restlaufzeiten von 40 Jahren für alle 19 deutschen AKW. Dafür müßten diese jedoch erheblich nachgebessert werden, was bei Reaktoren älteren Typs wie etwa in Stade gar nicht möglich wäre. Auch würden die abgeschalteten AKW wohl kaum alle durch Kohlekraftwerke ersetzt werden. Das in der Betreiber-Studie angeführte Argument des Kohlenstoffdioxid-Anstieges wird damit hinfällig.

Daß die Konzern-Strategie dennoch Wirkung zeigt, wurde Mittwoch vergangener Woche deutlich: Schröder verwies Trittins Atomgesetzvorschlag zurück in die beteiligten Ministerien. Begründung: Man sei sich uneinig über die Auslegung des Koalitionsvertrages. Nun sollen sich Trittin und Müller bis zum 13. Januar 1999 auf "Eckwerte" einer Atomgesetz-Novelle verständigen. Danach tritt der Koalitionsausschuß zusammen, um letzte Unklarheiten zu beseitigen. Zu einer Änderung des Atomgesetzes vor Beginn der Konsensgespräche, wie sie Jürgen Trittin gefordert hatte, wird es kaum mehr kommen.

Bleibt die Frage der Entsorgung. Der Koalitionsvertrag sieht vor, ein zentrales Endlager zu errichten, da die Zwischenlager an den AKW-Standorten nicht zur Endlagerung verwendet werden sollen. Hier steht zur Zeit der Ort Saldenburg im Bayerischen Wald zur Debatte. So soll durchgesetzt werden, woran bis jetzt alle konservativen Vorgängerregierungen gescheitert sind: ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll. Hätte Marie Curie vor 100 Jahren von den heutigen Querelen gewußt, hätte sie einen Teufel getan, die Radioaktivität zu entdecken.