Wovon die Welt schwätzt

William Gaddis ist durch den Redestrom seiner Zeit getaucht: "Die Fälschung der Welt"

William Gaddis' Roman "Die Fälschung der Welt" ist das, was sich nur noch selten jemand zu schreiben wagt: der Großroman, der Ausschnitt aus dem Weltlauf, großkopiert und stellvertretend für den Stand der Epoche verhandelt; das enzyklopädische Wissen, die Detailversessenheit - nicht, daß hier einfach eine Geschichte erzählt wird, es sind so viele Geschichten, daß es Geschichte wird. Es geht um Religion und Kunst, Leben und Tod, Faust und Alchimie, Europa und Amerika, Original und Fälschung, Wahrheit und Geld: kurz, um alles. Deshalb umfaßt der Roman auch 1 241 Seiten und wird ergänzt durch ein erläuterndes Beibuch.

Als "Die Fälschung der Welt" 1955 erschien, war William Gaddis 33 Jahre alt und hoffte, er bekäme den Nobelpreis. Doch niemand wollte das Buch lesen, und so wechselte er enttäuscht die Branche, um von nun an Beipackzettel für Arzneimittelkonzerne und Skripte für Filme der Rüstungsindustrie zu texten. Erst 20 Jahre später veröffentlichte er seinen nächsten Roman "JR", über einen Schüler, der über das Schultelefon ein Firmenimperium zusammenspekuliert. Später folgten noch zwei Romane. Mit dem Erscheinen von "Die Fälschung der Welt" sind sie nun allesamt ins Deutsche übersetzt.

Die zentrale Figur des Buchs ist der Gemäldefälscher und -imitator Wyatt. Er schleppt einen mächtigen Mutterkomplex mit sich herum. Da Wyatt in einem düsteren Pfarrhaus im protestantischen Neuengland aufwächst, von seinem in obskure religionsgeschichtliche Studien vertieften Vater mit Büchern über Alchimie und von der hardcore-puritanischen Tante mit freudloser Erbauungsliteratur versorgt wird, kommt noch ein ernsthafter religiöser Tick dazu. Wenn Wyatt seinen Haferschleim ißt, schaut ihn eine der sieben Todsünden von Hieronymus Bosch an, die unter Glas auf die Küchentischplatte gezeichnet sind.

Ein Bild, mit dem der ganze Ärger beginnt, als Wyatt eine Kopie des Bildes anfertigt, das von nun an leitmotivisch das Buch durchzieht. Und als Wyatt das Tafelbild der "Sieben Todsünden" in den Kamin schiebt, in dem Glauben, er vernichte die Fälschung, verbrennt er das Original - fortan kann niemand mehr die Fälschung als solche erkennen. "The Recognitions" ist der Titel der amerikanischen Originalausgabe, und diese "Wiedererkennungen" oder "Anerkennungen" sind mindestens genauso wichtig die Fälschungen. Denn Bilder können schlicht kopiert werden, und so fängt Wyatt an, aus Details schon bekannter Bilder neue Gemälde zusammenzustellen, um dann im nächsten Schritt - die hohe Kunst der Fälschung - ein Bild nachzuempfinden: So ist Wyatts opus magnum denn auch nicht die Kopie eines alten Meisters, sondern ein Bild, das es vorher nicht gab und das einem Maler zugeschrieben wird, den es ebenfalls nicht gegeben hat.

Fast alle Personen des Buches sind mit dem Fälschen oder der Produktion von Wiedererkennbarem beschäftigt, oder damit, daß Fälschungen als Original anerkannt werden - als da wären: ein Geldfälscher, der ähnlich besessen wie Wyatt an der Perfektion seiner Kunst arbeitet, ein stockkatholischer Komponist, der nicht in der Lage ist, sein großes Werk zu beenden, ein zynischer Künstler, der Arbeiterhemden auf Bildrahmen spannt und als experimentelle Kunst verscheuert, ein Reader's Digest-lesender Angestellter auf der Suche nach seinem Sohn, der Kopf der Fälscherbande, ein verfetteter Verleger, der alles verlegt, was sich verkaufen läßt, gleich mehrere Kunstkritiker, die für Geld alles behaupten oder beglaubigen, und ein Werbeagenturleiter, der die religionsgeschichtlichen Traktate aus Wyatts Bibliothek in trashige Werbespots verwandelt. Die "Wiedererkennungen" beziehen sich aber auch auf das Buch selber, das gespickt ist mit Referenzen auf zweitausend Jahre westlicher Kulturgeschichte, besonders deutlich herausgearbeitet ist die Faust-Geschichte, die inklusive Mephisto, Pudel, Auerbachs Keller, Gretchen und Walpurgisnacht ihre Cover-Version erfährt. Mit dem Unterschied, daß Wyatt von den Grenzüberschreitungen, um die es im "Faust" geht, wenig wissen will. Er will lieber zurück, am liebsten wäre er ein flämischer Tafelbildmaler unter dem Schutz einer mächtigen Gilde.

"Die Fälschung der Welt" zieht einen in einen Rausch wie wenige andere Bücher. Für die Dauer der Lektüre wird man durch die Geschichte der Kultur geschleudert, die unter "abendländisch" zusammengefaßt wird. Und das nicht nur, weil das Buch diesen enorm weitgespannten Verweishintergrund hat, der vom antiken Griechenland und Rom über das Mittelalter und die Renaissance bis heute reicht, von der Alchimie über die Farbmischtechnik für Tafelbilder bis zur Geschichte der Geldfälschung.

Diese Stoffmassen bewältigt Gaddis mit einer literarischen Technik, einem virtuosen Schreibstil, den er in seinen späteren Romanen auf die Spitze treiben wird und hier zum ersten Mal Probe laufen läßt: "Die Fälschung der Welt" ist zu weiten Teilen ein "Polylog"-Roman. Aufgebrochene Gespräche, geplatzte Dialoge: Alles Überflüssig-Beschreibende läßt Gaddis weg, übrig bleibt das Geschwätz der Welt.

Während der Autor in seinen späteren Romanen fast vollständig auf erzählende Momente verzichtet und wie mit einem Aufnahmegerät von einer Gruppe zur nächsten eilt, den Gesprächen durch Telefonleitungen hinterhertaucht, um dann an anderer Stelle weiterzulauschen, hat "Die Fälschung der Welt" noch einen Erzähler. Doch zu gut zwei Dritteln regiert auch hier das pure Gerede; die Protagonisten des Buches reden und reden und reden: über Kunst, Literatur, Musik; wo sich der mit dem rumgetrieben und was die neulich getan hat; wer alles nichts taugt; wie es in Europa ist, wie in Südamerika; welche Werbekampagnen eigentlich angeleiert werden müßten; wessen Mutter im Krankenhaus liegt und was der Analytiker sagt; wo man was auf gar keinen Fall essen darf.

Über Hunderte von Seiten ziehen sich diese "Polyloge" wie Transkriptionen des ewigen Partytalks oder Vernissagengeschwätzes. Gaddis bringt es in der Inszenierung dieses Sound-Of-The-City-Gequatsches zu einer Meisterschaft wie kein anderer. Und man erkennt, daß sich seit den Fünfzigern nicht allzu viel verändert hat: ein bißchen weniger Platon, ein bißchen mehr Pop. Künstlerische Originalität wird eher anhand der Frage diskutiert, ob Puff Daddy das eigentlich darf - Achtziger-Jahre-Pop klauen -, als durch Gespräche über griechische Bildhauer oder Tafelbilder flämischer Meister. Anstelle von verschwitzten Schwerarbeiter-Hemden stehen heute Kinderzimmer-Einrichtungen auf Vernissagen herum. Und statt der Renaissance wünscht man sich die Siebziger zurück.

Was sich auf den ersten Blick liest, als habe da einfach jemand die Gespräche von Village-Parties aus dem New York der frühen Fünfziger mitstenographiert, ist sorgfältig konstruiert. Gaddis verwebt die unzähligen Gesprächsfäden, und manchmal dauert es ein paar hundert Seiten, bis sich ein Anschluß ergibt. So stirbt die Mutter Wyatts zu Beginn des Buches unter dem Messer eines, sich als Chirurgen ausgebenden Geldfälschers und wird neben einem Mädchen beigesetzt. Rund tausend Seiten später ist es derselbe Fälscher, der die Mädchenleiche aus dem Nachbargrab plündert, um sie mit Wyatts Hilfe als ägyptische Mumie zu präparieren und an einen Ägyptologen zu verhökern. Die Überreste von Wyatts Mutter sind währenddessen auf dem Weg nach Rom, wo sie heiliggesprochen werden sollen. Fehlte eine einzige Episode, fiele der Roman in sich zusammen wie die Kathedrale unter der Wucht der Orgel, wovon gegen Ende des Buches die Rede ist. Wenn die Hauptfigur Wyatt an einer Stelle seine Faszination für die flämischen Maler damit begründet, daß die Künstler dieser Schule jede Figur in ein eigenes Licht setzen und ihr eine eigene Perspektive geben, so beschreibt dies zugleich die Methode Gaddis'. Auf diese Multiperspektive muß sich der in den Redestrom der Welt geworfene Leser einlassen und sich treiben lassen. Mal übernimmt Faust die Führung, mal stiefelt jemand durch das Purgatorium mittelalterlicher Heiligengeschichten.

Als nicht bibelfestem und wenig in Religions- und Kirchengeschichte bewandertem Leser bleibt einem da oft nichts anderes übrig, als das Beibuch zu zücken und nachzuschlagen, was es mit dieser gequälten Heiligen und jenem vergessenen Alchimisten auf sich hat. Allein die erklärenden Anmerkungen gehen über mehr als zweihundert Seiten. Man kann es sich aber auch schenken. "Die Fälschung der Welt" funktioniert auch so. Vielleicht sogar besser, denn der Leserausch wird nicht unterbrochen.

William Gaddis starb am vergangenen Mittwoch in seinem Haus in East Hampton bei New York im Alter von 75 Jahren an einem Krebsleiden.

William Gaddis: Die Fälschung der Welt. Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1998, 1 241 S., DM 78 Steven Moore: Die Fakten hinter der Fälschung. Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1998, 350 S., DM 33