Die Familie zieht um

Love Parade, Deutschlandfest, Luxemburg-Liebknecht-Demo - Massenaufzüge haben in Berlin Konjunktur.

150 Menschen zappeln im Sommer 1988 hinter einem Lautsprecherwagen durch Berlin. Aus den Boxen dröhnt textloser, baßlastiger Techno. Offensichtlich haben die Teilnehmer nicht mehr vor, als öffentlich zu tanzen: Die Love Parade ist geboren. Jahre später ist der am zweiten Juli-Wochenende stattfindende Zug zu einer der weltweit größten Massenversammlungen geworden, die sich erst nach und nach mit Sinn auflädt: Sei es, daß 1995 ihr Organisator Dr. Motte antisemitische Töne anschlägt, sei es, daß sich konservative Senatsmitglieder als Fans outen und den Techno-Umzug zum Kennzeichen des vereinigten Großberlins und damit Deutschlands verklären.

Die Organisatoren klagen den Status einer Demonstration ein und wählen gezwungenermaßen "politische" Slogans wie "We are one family". Die Love Parade sei eine Demonstration für: für mehr Spaß in der Familie der Tänzer. Aber warum ist das Ding so groß geworden (1997: eine Million Teilnehmer)?

Ein von halboffizieller Stelle initiierter Familien-Umzug, der ebenfalls ordentlichen Zuwachs verzeichnen kann, ist das unter Leitung des ehemaligen ZDF-Unterhaltungs-Chefs Wolfgang Penk inszenierte, seit 1993 stattfindende Deutschlandfest mit Umzug am 3. Oktober, bei dem sich die 16 Bundesländer mit Tanz- und Trachtengruppen präsentieren - Besucherzahlen um die 300 000, ein "Familienfest" (Penk) eben. Obwohl die Bundesregierung betont, daß die Familie die Keimzelle des Staates sei, ist wie bei der Love Parade das Spiel mit der planvollen Revolte wichtig: Das Deutschlandfest richtet sich gegen die wenig volksnahen Feiern "mit Beethoven" in den Ländern. Penk beklagt, man bekomme kaum Unterstützung für das Fest - eine Klage, die die Love-Parade-Macher ebenfalls vorbringen.

Die Absicht des Deutschlandfests: Es soll Freude über die neuen Ausmaße Deutschlands wecken, an einem bis 1990 nicht vorhandenen Nationalfeiertag, mit dem so richtig niemand etwas anfangen kann. Gefeiert wird, und zwar positiv und fröhlich mit National-Folklore, ganz so, wie Deutschlands Bewohner sich gern selbst sehen würden. So unterschiedlich Deutschlandfest und Love Parade sind, beziehen sie doch ihren Zulauf aus der gleichen Grundstruktur: der Begrenzung des Diffusen in der Party-Familie.

Bisweilen genauso empfinden sich die Teilnehmer anderer Events. Abgesehen von großen Zusammenkünften wie Christopher-Street-Day, Karneval der Kulturen, Rolling Stones-Konzerten, Silvester am Brandenburger Tor (ebenfalls von Penk arrangiert), Reichstagsverhüllung, US-Präsidenten-Besuchen und Veranstaltungen wie Bundesligaspielen gibt es die turnusmäßig abgehaltenen politischen Kundgebungen zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, sowie die größte regelmäßige Versammlung der Linken in Deutschland: die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration (LL-Demo) am zweiten Januar-Wochenende, bei der der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gedacht wird.

Zu DDR-Zeiten besuchten an diesem offiziellen Gedenktag viele Bürger die Gedenkstätte in Friedrichsfelde. Vor allem Luxemburg galt und gilt als Trägerin der Idee einer permanenten Revolution; das war damals nicht unproblematisch, weil oppositionelle Kräfte in ihr die Hoffnungsträgerin im Kampf gegen die Stagnation im eigenen Gesellschaftsleben sahen. Zum stillen Gedenken gesellte sich später die Demonstration. In den achtziger Jahren wurden während des Marsches, der am Leninplatz (heute: Platz der Vereinten Nationen) beginnt, systemkritische Stimmen laut im Sinne des Luxemburg-Satzes: "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" - ein äußerst flexibel interpretierbarer Ausspruch, mit dem sich oppositionelle Gruppen auf die Politikerin bezogen. War dieser Gedanke bis 1989 gegen die DDR gerichtet, galt er später dem aus Westdeutschland importierten Kapitalismus und seinen politischen Vertretern.

Nach der Wende 1989 dachte zunächst niemand daran, daß die LL-Demo ein anderes Schicksal ereilen würde als vergleichbare DDR-Massengedenktage, z.B. den 1. Mai oder den "Gedenktag zu Ehren der Opfer von Faschismus und Militarismus". Weil aber diese und andere Ostberliner Großtreffen, die neben ihrer offiziellen Funktion Möglichkeiten des Zusammenkommens der "linken Verwandtschaft" (ein Teilnehmer) boten, bedeutungslos wurden, etablierte sich die traditionell mit Oppositions-Chic ausgestattete LL-Demo erneut als der Tag, an dem unterschiedliche Lager zusammenfanden. Die Teilnehmerzahl stieg zwischen 1991 und 1998 von 30 000 auf über 100 000.

Die isolierten Zitate der Luxemburg boten sich als Grundmuster gesellschaftlicher Anklage fürs linke Spektrum an. Dabei begrüßen nicht wenige Besucher, daß die Demoleitung es untersagte, Transparente mit konkret politischen Forderungen z.B. gegen Sozialabbau auf den Friedhof mitzunehmen. Die Fahne muß draußen bleiben, die Reproduktion des Mythos "Karl und Rosa" findet seine kollektive Form: Er gilt für "alle", in diesem Fall eingegrenzt für alle Linken. Dazu reicht der traditionelle Strauß roter Nelken. Obwohl es eine politische Demonstration gibt, ziehen viele das "stille Gedenken" vor. "Die ganze Familie war da", titelte 1996 eine linke Zeitung über die Demo, der die Staatsmacht - da können Love Parade und Deutschlandfest wirklich nicht so ganz mithalten - zuweilen konkret an die Wäsche will.

Am LL-Gedenktag werden mehr als 100 000 Teilnehmer gezählt. Der von radikalen (und jüngeren) Demonstranten ausgemachte Mangel an Auseinandersetzungen mit der zahlreich vorhandenen Polizei, auch im Vorfeld vieldiskutiert, wird von diesen damit erklärt, daß bei den Älteren eben "die Knochen nicht mehr so schnell zusammenwachsen wie sie zusammengehören", wie Andreas, Angehöriger einer Autonomen-Gruppe, meint.

Anderen wichtigen Veranstaltungstagen erging es schlechter - z.B. dem 1. Mai. In der DDR war er der Staatsfeiertag schlechthin, im Westteil der Stadt bis in die sechziger Jahre Großkampftag der Arbeiterklasse mit Millionenpublikum, der sich auf die besondere Lage nach dem Krieg gründete. Heute ist der 1. Mai aufgespalten in eine von Gewerkschaften getragene Kundgebung und zwei Demo-Züge, die regelmäßig in Straßenschlachten zwischen den Teilnehmern und den für ihre Schlagwütigkeit bekannten Berliner Polizeieinheiten enden. Andererseits: "Den Leuten geht es noch nicht schlecht genug, die sitzen lieber vorm Fernseher." So bedauert z.B. Landespolizei-Hauptkommissar Matthias Reuther die fehlende Massenbasis am 1. Mai-Feiertag: "Ich kann mich an ganz große Kundgebungen in den sechziger Jahren erinnern, zu denen mich mein Vater mitnahm."

LL-Demo und Love Parade seien erstmal nur "zwei verschiedene Möglichkeiten des Gut-Drauf-Kommens", schreibt Günther Jacob. Der Vorwurf der Nichtpolitik impliziere immer "auch eine Forderung nach sinnvollem Protestverhalten". Die kollektive Bewegung ist ebenso Manifestation wie Anlaß gesellschaftlicher Diskussion: Ein Kennzeichen der Berliner Veranstaltungen ist, daß es so gut wie immer Streit um sie gibt.

Berlin verfügt nicht nur über eine breite Öffentlichkeit, über Medien und Multiplikatoren, sondern zudem über eine aus den zwanziger Jahren tradierte, starke Besetzung des öffentlichen Raums. Da weite Teile des Stadtgebiets mit vierstöckigen Häuserzeilen eng bebaut sind, es andererseits aber große öffentliche Plätze gibt, sind die Anwohner gern bereit, ihre Behausung zu verlassen. Die typisch deutsche Fußgängerzone fehlt zwar, dafür ist die historische Kulisse gewährleistet.

An weite Strecken ist man in Berlin gewöhnt. Dennoch bewegt man sich gern auf ausgetreteten Pfaden: Ebenso wie die Love Parade eine begrenzte Route abschreitet, bleibt der Berliner gern in seinem Kiez - alles andere wirkt bedrohlich. Bei all dem kann das Klima sehr provinziell sein.

In diesem Hin und Her gewährten die Umzüge eine Besetzung des öffentlichen Raumes, sagt die Theaterwissenschaftlerin Marina Dalügge, "gerade durch den Mangel konkreter politischer Ideen: Zuschauer und Teilnehmer sind nicht eindeutig zu trennen". Die Love Parade verfüge nicht - wie etwa die nationalsozialistischen Masseninszenierungen der vierziger Jahre - über die totale Choreographie und Marschordnung.

Trotz Zurückdrängung des öffentlichen Lebens ins Private erhalte sich "das Soziale als Grundbedürfnis". Auch auf Auswärtige wirken die Berliner Großveranstaltungen extrem attraktiv, bieten sie doch Anlaß, in die mit legendärem Ruf ausgestattete Stadt zu reisen. "Wir fahren nach Berlin" gilt nicht nur als Slogan unter den Fans eines Fußballclubs, der die Qualifikation zum Endspiel des DFB-Pokals geschafft hat - das Spiel findet jedes Jahr im von den Nationalsozialisten erbauten Olympiastadion statt. Genauso wie die Fanmassen desorientiert und betrunken auf dem Kurfürstendamm stehen und nicht wissen, wie sie ins Stadion gelangen sollen, ergeht es vielen Love-Parade-Besuchern ("Das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt").

Allerdings folgt der Deterritorialisierung des Love-Parade-Besuchers in seiner Doppelfunktion als Zuschauer und als Akteur die Begrenzung in der Rekonstruktion einer Familienstruktur, der party-family. Wer mitmachen darf ("alle"), wer nicht (was nicht "alle" ist), das ist nicht ganz fest, aber doch umrissen. "Man geht hin, weil die anderen da sind" - der Berliner Kunsthistoriker Rainer Stommer sieht darin das Politische jedes "Zusammenlaufs". Um was zu machen, weil man das Gefühl hat, man hätte sonst was verpaßt, zunächst mehr aus Integrations- statt Identifikationsmotiven. Wichtig sei "das Ausbrechen aus dem reinen Konsumverhalten". Das habe mehr mit Karneval als mit Faschismus zu tun, der an diffusen Rändern nicht interessiert sei.

Eine ähnliche Wirkungsformel vom spontanen Element von Massenzusammenkünften findet man bei linken Theoretikern: Georg Luk‡cs attestierte dem In-der-Masse-sein per se etwas Demokratisches - das kann man heute auch über die Love Parade hören ("Die Masse ist immer unschuldig"). Vor allzu positiven Assoziationen möge man sich trotzdem hüten: Schließlich ist das Pogrom auch eine spontane Massenveranstaltung.

Berlins mobile Kräfte stellen im Kontext der deutschen Vereinigung einen Zusammenhang kollektiver Wunschorganisation und bestimmte Diskursordnungen dar:

- "Familie": Der Mangel an dezidierten Forderungen führt zu ausgeweiteten Möglichkeiten der Besucher. Eine Veranstaltung ist okay, wenn die anderen da sind, Prinzip: Sinn für alle. Familie - oder besser: family - bezieht ihre Attraktivität aus einem minimalen Sinnstiftungsmodell.

- "Widerstand": Alle drei Veranstaltungen geben sich oppositionell. Sei es das stille Gedenken an Karl und Rosa gegen die herrschenden Verhältnisse, sei es die Forderung nach Bratwurst statt Beethoven oder nach Spaß für alle gegen die Spaßkiller. Die Interessen müssen gegen Widrigkeiten durchgesetzt werden. Für die Veranstaltung ist der Oppositionsmythos oft konstitutiv - fürs Vergnügen ebenso wie für Nostalgie im Neuen. Der Stand der Dinge wird öffentlich diskutiert.

- "Bewegung": Der Umzug stellt das Fortschreiten des Kollektivs dar - man will nicht auf der Stelle treten. Entgrenzung und Begrenzung der Massen halten sich die Waage, Ränder der (Selbst-)Inszenierung können diffus sein. Die festen Koordinaten können den familiären Ausflugscharakter unterstützen.

Diese drei Punkte könnten das Potential für einen neuen Mythos Berlin enthalten. Bewegung, Widerstände überwinden und dabei die eigene Eingrenzung in tradierten Strukturen betreiben - das scheinen die Säulen und Zuwachsgaranten der säkularen Rituale zu sein: großes Ding statt großer Worte. In seiner vermeintlichen Umbruchsituation bietet sich Berlin als Projektionsfläche der Identitätsfindung für jedermann an.

Und mit Folgen. Das ganze Land plant schließlich einen Umzug von der alten Republik in die neue. Der dürfte allerdings, ebenso wie manche der Veranstaltungen, die Suche nach dem alten Glück bedeuten.