Kurzschluß im Bündnis

Wirtschaftsminister Müller geht auf Konfrontation: Die Gewerkschaften sollen bei den Lohnverhandlungen maßhalten

Roland Issen ist verstimmt. "Es wäre sicherlich hilfreich, wenn der Bundeskanzler seinem Wirtschaftsminister deutlich machen würde, daß auch in diesem Felde der Politik der Kanzler die Richtlinien bestimmt", verkündete am vergangenen Wochenende der Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) säuerlich. Werner Müller solle doch bitte schön die Tarifpolitik denen überlassen, "die am Ende auch den Kopf dafür hinhalten müssen", forderte Issen.

Auch die Chefin der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Margret Mönig-Raane, zeigte sich wenig begeistert: "Es wäre klüger gewesen, er hätte sich nicht eingemischt." Die Gewerkschaften bräuchten keine Nachhilfe in Volkswirtschaft und in gesamtwirtschaftlicher Verantwortung, so Mönig-Raane. Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte sprach kurz und knapp von einem "Kurzschluß" des Wirtschaftsministers. Und IG Metall-Chef Klaus Zwickel drohte gar mit dem Scheitern von Schröders Lieblingsprojekt, dem sagenumwobenen Bündnis für Arbeit. Bisher habe die Bundesregierung in dem Bündnis nicht in die Tarifpolitik hineingeredet und er hoffe, so Zwickel, "daß das auch so bleibt". Denn: "Wer Tarifpolitik ins Bündnis tragen will, zerstört dieses Bündnis. Ich jedenfalls würde dann aufstehen und gehen."

So hatten sich die deutschen Gewerkschaften das wirklich nicht vorgestellt. Was hatten sie schließlich nicht alles getan, um endlich eine Bundesregierung nach ihrer Fasson zu bekommen. Acht Millionen ließen sie sich den Wahlkampf für die SPD kosten. Sogar das dumme Geschwätz von Schröders "Neue Mitte"-Wahlkampfgag Jost Stollmann hatten sie ertragen, nur um das große Ziel nicht zu gefährden. Und nun? Nun gibt es die so ersehnte neue Bundesregierung und einen neuen Bundeswirtschaftsminister - doch der redet ganz wie der alte. Ungerechte Welt.

Rexrodtsche Qualität kann den Ratschlägen des neuen Wirtschaftsministers für die kommenden Tarifverhandlungen durchaus bescheinigt werden. Der Staat habe bereits mit der Kindergelderhöhung und der Senkung der Einkommenssteuer "ein Stück mehr in die Lohntüte getan", sagte Müller der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung kurz vor Jahresende und erklärte: "Die Lohntüte wird nicht in erster Linie durch mehr Geld dicker, sondern durch weniger Steuern und Abgaben." Deshalb seien nun "maßvolle Lohnabschlüsse" angesagt. "Wenn man mühsamst genug die Lohnkosten um 0,8 Prozent senkt und parallel dazu von den Gewerkschaften sechs Prozent direkt gefordert werden, dann gibt es irgendwo einen Kurzschluß", dozierte Schröders Duz-Freund, ganz so, als würde er immer noch in seinem Interimsjob als selbständiger Industrieberater tätig sein.

Wie könnten die Gewerkschaften solche Äußerungen anders werten denn als Frontalangriff auf ihre Tarifpolitik? So war die IG Metall Anfang Dezember mit der Forderung nach 6,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt für die 3,4 Millionen Beschäftigten der deutschen Metall- und Elektroindustrie in die Tarifrunde 1999 gegangen. Die HBV will für die etwa 470 000 Beschäftigten der deutschen Banken eine Einkommenssteigerung von 6,5 Prozent durchsetzen. Die DAG fordert sechs Prozent. Für die 220 000 Beschäftigten des privaten Versicherungsgewerbes fordern HBV und DAG 6,5 Prozent mehr Einkommen und kürzere Arbeitszeiten. ÖTV und DAG gehen mit einer Forderung von 5,5 Prozent für die 3,2 Millionen Arbeiter und Angestellten bei Bund, Ländern und Gemeinden in die Tarifrunde 1999. Jeweils 5,5 Prozent werden die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) und die Gewerkschaft der Eisenbahner in der bevorstehenden Tarifrunde verlangen.

Und die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG) verlangt für die rund 500 000 Beschäftigten in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie 520 000 Beschäftigte im Gastgewerbe zwischen 4,5 und sechs Prozent mehr Geld. Für die Arbeitgeberverbände erwartungsgemäß allesamt völlig unannehmbare Forderungen. Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe bezeichnet sie schlicht als "realitätsfern".

Entsprechend begrüßte Stumpfe die Auslassungen Müllers. Sie seien eine erfreuliche und korrekte Klarstellung, die sich wohltuend von der Forderung anderer Regierungsmitglieder nach einer einseitigen Stärkung der Binnennachfrage abhebe, erklärte Stumpfe der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Was haben die Gewerkschaften eigentlich von dem neuen Bundeswirtschaftsminister erwartet? Sicherlich, im Vergleich zum ebenfalls parteilosen Jost Stollmann und dessen Yuppie-Parolen mußte ihnen der bedächtig erscheinende Müller vordergründig als eine annehmbare Alternative erscheinen. Doch hätten sie ihm bei seinem Amtsantritt richtig zuhören sollen. Er wolle sich für eine "Renaissance der sozialen Marktwirtschaft" einsetzen, erklärte Müller damals. Das bedeute: Es gehe ihm darum, die Grundgedanken Ludwig Erhards zu bewahren. Und jetzt gibt er wie dieser dereinst seine Appelle zum Maßhalten aus - wie es sich für einen Wirtschaftsmanager gehört.

Einen Großteil seines Lebens hat der Zigarilloraucher in den Führungsetagen der Stromkonzerne verbracht. Nach zwei Jahren als Referatsleiter bei der Essener RWE wechselte er 1980 zum Düsseldorfer Veba-Konzern und stieg dort zum Generalbevollmächtigten auf. Seitdem galt er als Ziehkind von Rudolf von Bennigsen-Foerder. Doch als der Veba-Chef Anfang der neunziger Jahre starb, begann Müllers Stern zu sinken. 1992 wurde Müller auf einen Vorstandsposten der Konzern-Tochter Veba Kraftwerke Ruhr AG (VKR) abgeschoben. Als die VKR zusammen mit den anderen Kraftwerksunternehmen des Konzerns in einer neuen Kraftwerksgesellschaft der Veba-Tochter PreussenElektra aufging, war für ihn im verkleinerten VKR-Vorstand kein Platz mehr. Mit einer siebenstelligen Abfindung gut versorgt, stieg Müller zum 31. Oktober 1997 aus dem Konzern aus und verdiente sich als selbständiger Industrieberater noch etwas dazu.

Die Wege Werner Müllers und Gerhard Schröders kreuzten sich erstmals 1990. Nach dem Wahlsieg von Rot-Grün in Niedersachsen hatte der Veba-Konzern einen Krisenstab eingerichtet, um eine Wende in der niedersächsischen Energiepolitik zu verhindern. "Wie kann Schröder Erfolg haben, ohne daß wir abgemeiert werden?" fragte sich Müller. Die Lösung: Dem Ministerpräsidenten wurde die Gründung einer gemeinsam von den Stromkonzernen und dem Land getragenen Energieagentur vorgeschlagen, um Konzepte für einen "Energiemix der Zukunft" zu erarbeiten. Wie hätte das Schröder ablehnen sollen - wo das Energieunternehmen ihm die Agentur auch noch direkt schlüsselfertig und inklusive Mitarbeitern präsentierte? Die zweite Investition in die Zukunft erfolgte 1991: Für ein symbolisches Honorar von einer Mark pro Monat wurde Müller Schröders Berater bei den Energiekonsens-Gesprächen. Schröders Energiepolitik werde wohl nun in der Vorstandsetage der Veba entwickelt, kommentierte Jürgen Trittin, damals noch Minister in Niedersachsen.

Müller als Berater Schröders zu plazieren, war ein geschickter Schachzug. Denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte er keine libidinöse Beziehung zur Kernenergie, sondern eine pragmatische Haltung. Müller ist kein Atomkraftgegner, sondern sieht vielmehr bis heute "gute Gründe, weiterhin auf die Kernkraft zu setzen". Aber er weiß, daß es für sie keine gesellschaftliche Perspektive mehr gibt.

Entsprechend sieht er seine Aufgabe an Schröders Seite - und nun auch in der rot-grünen Bundesregierung - darin, die Interessen der Stromkonzerne beim Ausstieg zu wahren. Wenn schon Ausstieg, dann so langfristig wie möglich und zu den besten Konditionen für die Stromindustrie.

Beim Thema Atomenergie kann sich Werner Müller der Zustimmung der Gewerkschaften sicher sein. Schließlich geht es ihnen doch hier um den Erhalt von Arbeitsplätzen, und der Bundeswirtschaftminister bildet schließlich das Bollwerk gegen den grünen Umweltminister Trittin, diesen "eiskalten Manager", wie ein RWE-Betriebsrat festgestellt hat. Natürlich geht es Müller auch bei seiner Mahnung zu "maßvollen Lohnabschlüssen" um nichts anderes als um Arbeitsplätze. "Diese Bitte muß ich machen, da die Senkung der Arbeitslosigkeit das wichtigste Ziel meiner Wirtschaftspolitik ist", teilte er vergangene Woche der Bild-Zeitung mit. Was hätten die Gewerkschaften mehr von ihm erwarten können?