Nach dem Anschlag auf Heinz Galinskis Grab

Training in Enthemmung

Das Dementi erfolgte, bevor die Behauptung aufgestellt war. Der Bombenanschlag auf das Grab Heinz Galinskis auf dem jüdischen Friedhof Heerstraße im Berliner Bezirk Charlotten- burg, so wurde man schnell auf allen Radio- und Fernsehkanälen belehrt, habe nichts zu tun mit aktuellen politischen Diskussionen. Dabei war an jenem Abend des 19. Dezember die Behauptung noch gar nicht erhoben worden, der Anschlag auf das Grab des früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden sei auf die geistige Brandstiftung Martin Walsers und seiner Apologeten zurückzuführen.

Der Anschlag sei zwar bedauerlich, aber, so Berlins Innensenator Eckart Werthebach, es gebe nun einmal das Potential für solche Straftaten. Schon Anfang 1998 hatte seine Behörde einen Anstieg der antisemitischen Straftaten um 15 Prozent prognostiziert. Als dann auch noch ein passendes Bekennerschreiben auftauchte, in dem behauptet wurde, die Bombenleger seien "alles andere als Antisemiten", sie hätten nur gegen die Umbenennung eines Teils der Schulstraße im Berliner Wedding in Heinz-Galinski-Straße protestieren wollen, schien der Fall geklärt. Doch nach wenigen Tagen folgte das Dementi: Das Bekennerschreiben sei von "Trittbrettfahrern" verfaßt worden.

Die Berliner Polizei mußte zugeben, daß bei diesem Anschlag eine neue Qualität zutage getreten ist. Teile der Bombe, die die Grabplatte in mehrere Teile sprengte, fand die Spurensicherung noch in vierzig Meter Entfernung. Die Bombe hatte eine Zerstörungskraft, die, wäre sie vor einer jüdischen Einrichtung zur Detonation gebracht worden, Tote hätte fordern können. Beim einem ersten Anschlag mit einem selbstgebastelten Sprengsatz Ende September 1998 war bereits ein Teil des Grabsteins herausgebrochen.

Bei dem neuen Anschlag handelt es sich um eine Demonstration sowohl der Möglichkeiten als auch der Grenzen des militanten Antisemitismus. Die Täter - von einem "Einzeltäter" (Bundespräsident Roman Herzog) kann kaum ausgegangen werden - haben gezeigt, wozu sie in der Lage sind. Und sie haben gezeigt, daß sie sich (noch) nicht an Kindergärten, Schulen, Gemeindezentren, an Synagogen oder direkt an jüdische Repräsentanten herantrauen.

Die Woche veröffentlichte wenige Tage nach dem Anschlag eine Umfrage, der zufolge 20 Prozent der Deutschen "latente Antisemiten" seien. 41 Prozent, die der Meinung sind, der Einfluß der Juden in der Wirtschaft sei im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig groß, und 38 Prozent, die finden, "viele Juden versuchen aus der Vergangenheit ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen", zählt die Woche noch nicht zu den "latenten" Antisemiten. Und die 63 Prozent, die "nach 53 Jahren, endlich einen Schlußstrich unter die Diskussion über die Judenverfolgung ziehen" möchten, erst recht nicht.

Zwei Monate Enthemmungstraining im Zuge der Debatte nach Walsers Friedenspreis-Rede haben Wirkung gehabt. In Berlin wurde das vorauseilende Dementi zur Bestätigung des Zusammenhangs zwischen latentem und militantem Antisemitismus. Dabei wäre Walser nach den Kriterien der Woche nicht einmal latent antisemitisch.