Fünfhundert Mündel

Das Ostberliner Bezirksamt Treptow ist für minderjährige Flüchtlinge häufig die Endstation

Viel bekommen sie von der Hauptstadt nicht zu sehen: Berlin, das hieß für die rund 2 000 minderjährigen Flüchtlinge, die allein im vergangenen Jahr auf dem Landweg oder per Flugzeug hier ankamen, zunächst einmal Treptow. Für die Teenager aus aller Welt sind das Bezirksamt im Osten der Stadt und die ihm angeschlossene Amtsvormundschaftsstelle immer die erste - und über Monate hinweg die einzige - Anlaufstelle.

Seit drei Jahren werden alle "alleinstehenden Minderjährigen" zwischen 14 und 18 Jahren von Treptow aus zentral "verwaltet". Ganze sechs sogenannte Amtsvormünder hat das Bezirksamt abgestellt, die sich um die inzwischen über 3 000 Jugendlichen kümmern sollen. Jeder Vormund ist allein für rund 500 "Fälle" aus bis zu vierzig verschiedenen Ländern zuständig.

Als der heute 18jährige Mehmet Kurt vor zwei Jahren aus der türkisch-kurdischen Provinz nach Berlin kam, hatte er nicht viel Gepäck dabei. Gemeinsam mit zwei Freunden hatte er während der Newrozfeier in Diyarbakir eine kurdische Fahne hochgehalten. Türkische Polizisten nahmen die drei Jugendlichen fest und mißhandelten sie zwei Tage lang. Danach entschied seine Familie, für Mehmet Kurt sei es sicherer, nach Deutschland zu fliehen.

Da türkische Jugendliche unter 16 Jahren damals noch ohne Visum nach Deutschland einreisen konnten, kam Mehmet Kurt mit den Papieren seines um ein Jahr jüngeren Bruders. Die Fluchthelfer, die ihn für viel Geld nach Berlin brachten, beschrieben ihm den Weg zur Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber. Als Minderjähriger wurde "Ali K." automatisch in die "Clearingstelle" Treptow weiterverteilt.

Eigentlich hätte sein Amtsvormund ihn zur Asylanhörung begleiten sollen, doch dafür hatte Danilo Büttner keine Zeit. Mehmet Kurt ging alleine, einige Monate später lehnte das Verwaltungsgericht seinen Asylantrag als "offensichtlich unbegründet" ab. Fest davon überzeugt, daß am Ende der Befragung Festnahme und Abschiebung stehen würden, hatte Mehmet Kurt seine Verfolgungsgeschichte verschwiegen.

Zwar erhob Vormund Büttner Klage gegen die Ablehnung des Asylbegehrens, doch mehreren Aufforderungen des Verwaltungsgerichts, die Klage zu begründen und den Fluchtweg des Jugendlichen anzugeben, kam er nicht nach. Erst nachdem das Gericht das Asylverfahren für beendet erklärt hatte, schaltete Büttner sich wieder ein. Mit einem rückdatierten Wiedereinsetzungsantrag, den er erst nach Ablauf der zweiwöchigen Frist einreichte, versuchte er, das Klageverfahren weiterzuführen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab. Mehmet Kurt selbst erfuhr von dem endgültigen Ende seines Asylverfahrens erst, als er Ende 1997 seine Aufenthaltsbewilligung verlängern wollte und statt dessen von der Ausländerbehörde zur Ausreise aufgefordert wurde.

Da war Mehmet Kurt bereits alt genug, um eine eigene Anwältin zu engagieren: Regina Götz, die als erstes Strafanzeige gegen das Bezirksamt Treptow wegen "Verletzung der Erziehungs- und Fürsorgepflicht" erstattete. Wie zuvor schon in ähnlichen Fällen, stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren jedoch schnell wieder ein.

Während die Polizei wochenlang fast täglich Kurts Jugendheim durchsuchte, um den untergetauchten Jugendlichen abzuschieben, versuchte es Anwältin Götz bei der nächsthöheren Instanz. Mit Erfolg: Das Bundesverfassungsgericht entschied, es müsse erneut über die Fortsetzung des Asylverfahrens verhandeln werden. Bis dahin könne Mehmet Kurt nicht abgeschoben werden, da sein Asylverfahren noch nicht beendet sei.

Nach fast dreimonatiger Illegalität konnte er nun zwar wieder normal Leben, doch die Hoffnung, das Gericht werde die groben Unterlassungen seines Amtsvormundes würdigen und das Asylverfahren wieder aufnehmen, erfüllte sich nicht. Ende Dezember kam das Berliner Verwaltungsgerichts zu dem Schluß, Kurts Amtsvormund habe zwar grob fahrlässig gehandelt. Da dahinter jedoch kein Vorsatz zu vermuten sei, trage er selbst die Verantwortung dafür, daß die entscheidende Frist zur Klagebegründung vor mittlerweile mehr als zwei Jahren nicht eingehalten wurde.

Mehmet Kurts Aussagen, wonach sich sein Amtsvormund überhaupt nicht um ihn kümmerte, beeindruckten das Gericht nicht. Mit der Entscheidung sind dem jungen Kurden nun sämtliche Möglichkeiten auf eine gerichtliche Anhörung seiner Verfolgungsgeschichte genommen. Sobald das Urteil rechtskräftig ist, droht die Abschiebung.

Für die Anwältinnen Götz und Traudl Vorbrodt von Pax Christi, die bei der Härtefallkommission des Innenausschusses neben Mehmets Fall noch weitere Fälle aus Treptow vorgelegt haben, macht sich die Amtsvormundschaft Treptow mit ihrer Praxis zum "Gehilfen der rigiden Flüchtlingspolitik" des Berliner Senats.

Zwar ist die zuständige Senatorin Ingrid Stahmer (SPD) nach dem Haager Minderjährigen-Schutzabkommen und der UN-Kinderkonvention verpflichtet, den Jugendlichen "besonderen Schutz" zu gewähren. Doch zählen hier die gleichen Grundsätze wie bei erwachsenen Asylsuchenden. So gilt seit Januar 1997 die Senatsvorlage 198/96 mit dem Titel "Maßnahme zur Beschleunigung der Asylverfahren alleinstehender Minderjähriger und deren vormundschaftliche Betreuung". In bestem Beamtendeutsch definiert das Senatspapier die Prämissen für die Arbeit von Danilo Büttner und seinen fünf Kollegen: "Die weitere Beschleunigung der Asylverfahren und Rückführungen in die Herkunftsländer durch die Amtsvormundschaft Treptow während der ersten drei Monate werden die bisherigen Aufenthaltszeiten Betroffener verkürzen, die Zahl der in Berlin verbleibenden Asylsuchenden mindern, auch Anschlußunterbringungen durch zuständig werdende Jugendämter vermeiden und somit zu Einsparungen in den Bezirkshaushalten führen."