Der europäische Integrationsprozeß sei "gegenwärtig erschüttert", sagte der polnische Außenminister Bronislaw Geremek vergangene Woche in einer Rede in Berlin, wo ihm an der Freien Universität die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Unter deutlicher Anspielung auf die Bundesregierung erklärte er, Interessenkonflikte gewännen in Europa zunehmend die Oberhand, Egoismus und Isolationismus stellten das Prinzip der Solidarität in Frage. Die partikularen "nationalen" Interessen einzelner EU-Mitglieder seien zum wichtigsten Bezugspunkt der politischen Entscheidung geworden. "Es ist, als ob die Lehre der europäischen Geschichte immer schwächer würde." In seinem Land habe man "die Erklärung der neuen Regierung" in Deutschland mit Argwohn und Besorgnis verfolgt, erklärte der Außenminister. Geremek war während der NS-Besatzung nur knapp der Vernichtung im Warschauer Ghetto entkommen.
