Die Grenzen der Mitte
401 von 720 Stimmen, 40 mehr als nötig – bei der Wiederwahl als EU-Kommissionspräsidentin erzielte Ursula von der Leyen ein besseres Ergebnis als vor fünf Jahren. Da bekam sie nur neun Stimmen mehr als nötig (Jungle World 30/2019). Gewählt wurde von der Leyen von einem »Bündnis der Mitte«, bestehend aus Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Theoretisch hätte es auch ohne die Stimmen aus der grünen Fraktion für eine Mehrheit reichen müssen, doch da es wegen fehlenden Fraktionszwangs und divergierender nationaler Interessen viele Abweichler:innen in den anderen genannten Fraktionen gibt, waren die Stimmen der Grünen letztlich wohl entscheidend für die Wahl der Kommissionspräsidentin.
Die Abgeordneten der deutschen FDP wählten von der Leyen nicht, obwohl das die Empfehlung ihrer liberalen Fraktion war. Das kam für viele überraschend, weil von der Leyen der FDP Zugeständnisse gemacht und sich in ihrem 31seitigen Programm sogar für deren liebstes Lobbyprojekt »E-Fuels« ausgesprochen hatte. So soll der Verbrennungsmotor erhalten bleiben, auch wenn ab 2035 in der Europäischen Union nur noch PKW zugelassen werden sollen, die als klimaneutral gelten.
Mit Giorgia Meloni reiste von der Leyen gemeinsam nach Tunesien und Ägypten, um den dortigen Autokraten EU-Gelder dafür zu geben, Geflüchtete von der EU fernzuhalten.
Ob sich von der Leyen ihre Mehrheit mit den Stimmen der Grünen oder mit Hilfe der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) absichern würde, war bis kurz vor der Abstimmung unklar. Vielen in der konservativen Fraktion der Europäische Volkspartei (EVP) wäre ein Bündnis mit der in dieser Fraktion dominierenden italienischen Partei Fratelli d’Italia unter der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni lieber gewesen als eines mit den Grünen – allen voran dem EVP-Vorsitzenden Manfred Weber, der für ein »italienisches Modell« wirbt, also ein Bündnis aus Konservativen und Rechtsextremen.
Doch die EKR-Fraktion stimmte nicht für von der Leyen. Dabei versteht diese sich bestens mit Meloni. Die beiden reisten schon gemeinsam nach Tunesien und Ägypten, um den dortigen Autokraten EU-Gelder dafür zu geben, Geflüchtete von der EU fernzuhalten – ungeachtet der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen. Am Ende entschied sich von der Leyen aber doch, um die Stimmen der Grünen zu werben. Wohl auch, weil die Sozialdemokraten deutlich machten, dass sie von der Leyen nicht wählen würden, wenn sie sich von Meloni abhängig mache.
European Green Deal und Aufrüstung von Frontex
Die Grünen haben aus zwei Gründen für die bisherige und künftige Kommissionspräsidentin gestimmt. Erstens sollen der European Green Deal und damit einhergehende Bemühungen um Klimaschutz weitergeführt werden. Zweitens haben sie dafür gesorgt, dass die extreme Rechte keinen Einfluss auf die Kommissionspräsidentin nehmen konnte. Mehr können die Grünen derzeit auch kaum verlangen. Die Fraktion ist nach den Europawahlen auf 53 Sitze geschrumpft, die deutschen Grünen haben nur noch zwölf statt 21 Abgeordnete.
Von der Leyen plädiert nicht nur für den Green Deal, sondern auch für eine noch umfangreichere Aufrüstung von Frontex. Eigentlich sollte die Grenzschutzbehörde bis 2027 auf 10 000 Beamte wachsen, nun fordert die Kommissionspräsidentin sogar 30 000 Beamte – trotz aller Skandale und dem Umstand, dass der ehemalige Frontex-Direktor Fabrice Leggeri inzwischen für die rechtsextreme französische Partei Rassemblement national im Europäischen Parlament sitzt.
Rigide Flüchtlingspolitik ohne Rücksicht auf Menschenrechte
Wo die vielen neuen Leute für Frontex überhaupt herkommen oder eingesetzt werden sollen, ist unklar. An mehreren EU-Außengrenzen ist Frontex nicht aktiv, so lehnt etwa die polnische Regierung ihren Einsatz an der Grenze zu Belarus ab; aus Ungarn zog sich Frontex in Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zurück.
An der griechischen Land- und Seegrenze zur Türkei ist völlig unklar, was die vielen Frontex-Beamten eigentlich machen, außer bei Pushbacks, also illegalen Abschiebungen der griechischen Küstenwache, wegzuschauen. Frankreich, Spanien und Italien äußerten sich in internen Papieren kritisch zum »Standing Corps«, der neu aufgestellten Einsatztruppe von Frontex.
Doch bei der Aufrüstung von Frontex geht es auch gar nicht darum, ob sie irgendeinen messbaren Effekt hat oder auch nur realisierbar ist. Es geht darum, zu kommunizieren, dass man keine Rechtsextremen wählen muss, um eine rigide Flüchtlingspolitik ohne Rücksicht auf Menschenrechte zu bekommen.