Muttis Liebling

Schafft Thomas Ostermeier den "Blauen Vogel", oder schafft der Vogel ihn?

Warum sollen sich Treppenwitze der Weltgeschichte eigentlich nicht wiederholen dürfen, zum Beispiel als Treppenwitze der Theatergeschichte? Dann nämlich wäre der Regisseur Thomas Ostermeier (30) auf dem besten Weg, die Lady Diana der deutschen Theaterszene zu werden. Sie kam aus dem Kindergarten; er leitete den Abenteuerspielplatz "Baracke des Deutschen Theaters". Sie wurde durch ihre Heirat mit dem Prinzen zur meistfotografierten Nebendarstellerin des britischen Empires; er wurde - warum auch immer - auf den Chefsessel eines der wichtigsten Theater katapultiert.

Seitdem Ostermeier zum künstlerischer Leiter der legendären Berliner Schaubühne berufen wurde, steht er im Mittelpunkt eines hochkonzentrierten, zunehmend mißgünstigeren Medieninteresses. Hatte er in der Baracke mit seinen kraftmeierischen Erstaufführungen kleiner dreckiger Brit-Pop-Stücke noch Narrenfreiheit, mißt man ihn jetzt an der aufgeplusterten Schaubühnen-Fama und legt die Latte ziemlich hoch. Ostermeiers Fallhöhe ist inzwischen enorm.

Erst wurde jeder Baracken-Pups abgefeiert, nun, nach gelungener Beförderung des emsig protegierten Newcomers, möchte man ihn wohl für den Aufstieg bestrafen. Denn wen die Presse großmacht, den will sie auch wieder schrumpfen sehen: "Who killed Bambi", hieß das in "The Great Rock'n'Roll Swindle". Wer sagt denn, daß das Theaterbusiness anders funktioniert. Das Ostermeier-Mobbing hat begonnen, ehe auch nur ein Konzept für seine Arbeit am Kurfürstendamm vorliegt. Viel interessanter als alles, was der junge Nichtwilde noch aufzuführen vermag, ist das kleine Lehrstück über pluralistische Meinungsmache, in dem er nun die Hauptmarionette spielt.

So war denn auch das sportliche Interesse bei Ostermeiers erster Inszenierung auf einer großen Bühne, nämlich der des Deutschen Theaters, gewaltig - 180 Journalisten und eine Frage: Schafft er's? Maurice Maeterlincks "Der blaue Vogel", geschickt, weil fern jeder Konkurrenz ausgewählt, gehört wirklich nicht zum vertrauten Repertoire. Die krude Weltbeglückungsparabel voller märchenhaft abgehobener, dick symbolistischer Geschwätzigkeit, 1908 von Konstantin Stanislawski in Moskau uraufgeführt, ist nicht zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Die Aufführung, die so mittelmäßig ausfiel wie Ostermeiers bisherige Darbietungen, macht daraus wenigstens ein halbwegs ansehnliches, mitunter sogar absurd spaßiges Märchen. Und das trotz Protagonisten wie Milch, Brot, Zucker, Licht, Hund, Katze, Feuer, Wasser. Begleitet von diesen Figuren suchen die Geschwister Mytyl (unauffällig: Anja-Marlene Korpiun) und Tyltyl (artig: Tilo Werner) auf Wunsch der Fee Berylune (Gudrun Ritter) den blauen Vogel. Die nächtliche Traumexpedition führt sie aus dem ärmlichen Elternhaus in das Land der Erinnerung, zu den toten Großeltern, in den Palast der Nacht, den putzmunteren Wald, die Glücksgärten, das Reich der Zukunft samt ungeborener Kinder.

Natur und Gegenstände werden lebendig, die Geschwister zunehmend verwirrt. Kein blauer Vogel, den sie fangen, überlebt. Der letzte entflieht am Schluß. So ist das mit dem Glück auf Erden - wer es sucht, findet es selten, wer es findet, behält es nicht -, aber schön, aber schön war es doch.

Vierzehn verschiedene Stühle stehen vor dem roten Vorhang. Der leicht angeschmuddelte Erzähler (Horst Lebinsky) setzt sich etwas abseits, holt aus einer Plastiktüte ein dickes Buch und hebt an mit den Worten: "Maurice Maeterlinck. Der blaue Vogel". Das kann ja heiter werden. Zum Glück stürzt sich der alte Herr zwischendurch immer wieder spielerisch ins Getümmel. Ansonsten zitiert er all das, was Ostermeier nicht zeigen kann oder will, zumal des Dichters Anweisungen zur Ausstattung. Das tatsächliche, karge Dekor und die personenzentrierte Regie tun der Fabel gut. Es gibt nur einen roten Vorhang vor einem Gazeschleier vor der kegelförmigen Drehbühne vor dem Rundhorizont (Bühne: Jan Pappelbaum). Die Fee bestimmt anfangs die Blickrichtung: "Siehst du", beschwört sie den verdatterten Tyltyl, bis der endlich genau das erschaut, was er möchte.

Wilde Wunschvorstellungen bestimmen Maeterlincks dramatisches Konzept. Was man noch nicht hat, kann man sich immerhin schon herbeiphantasieren - warum das so ist, und warum das meistens alles ist, interessiert in dieser Inszenierung nicht. Mytyl und Tyltyl bestreiten den Abend im Nachtgewand, den anderen Figuren haben die Kostümbildner kokett bizarre Fetisch-Outfits aus Leder und Latex angemessen. Das Licht trägt ein goldenes Paillettenkleid, das Feuer Lederprothesen und Gummimaske, der Zucker ein Zorro-Cape zu knappen Shorts.

Ostermeier gelingt es immmerhin, die jungen und die altbewährten Darsteller zu einer homogenen Gruppe zu formen, die permanent die Bühne bevölkert und dabei fließend die Identitäten wechselt: Vom schaurigen Geisterchor über die lasziv-derben Glücksallegorien bis zu den Bäumen, die eine Treibjagd auf die Kinder veranstalten, um sich für das Leid zu rächen, das deren Holzfäller-Vater ihnen angetan hat. Ostermeier hangelt sich solide, einfältig und handwerklich sauber am Text entlang.

Daß er dies wie Muttis Liebling tut, ohne einen Blick in die Abgründe, die "Der blaue Vogel" birgt, und ohne jeden Mut zum Risiko, erstaunt nur den, der sich bei seinen ebenso braven Baracken-Arbeiten genüßlich ekelte. Und von Avantgarde laberte, bloß weil es dort um "No Future" ging und die Darsteller Shoppen, Ficken, Kotzen spielen durften. So gesehen, wäre der schläfrig inszenierende Ostermeier als Thomas Langhoffs Ziehsohn am Deutschen Theater passend untergebracht. Statt dessen hat er jetzt die nach Er-neuerung schmachtende Schaubühne am Hals, eventuell mit Dienstwagen. Doch auch Mittelmaß hat Tücken, weshalb schnelle Fahrten in schwarzen Limousinen vermieden werden sollten.

Maurice Maeterlinck: Der blaue Vogel. Regie: Thomas Ostermeier. Mit Horst Lebinsky, Anja-Marlene Korpiun, Tilo Werner, Gudrun Ritter, Gabriele Heinz.

Nächste Vorstellung: 28. Januar, Deutsches Theater, Berlin, Schumannstr. 13 a