Schweizer Messer und High Tech

Die baltische Republik Estland bereitet sich in Rekordgeschwindigkeit auf den EU-Beitritt vor

Seit Lennart Meeri 1992 zum estnischen Staatspräsidenten gewählt wurde, gilt er als Vorbild sämtlicher Installateure des baltischen Musterländles. Von ihm erzählt man sich die herzerwärmende Geschichte, er würde ständig ein Schweizer Taschenmesser bei sich tragen und damit im Präsidentenpalast der estnischen Hauptstadt Tallinn so ziemlich alles reparieren, wofür sein Know-how ausreicht. Die Befürworter einer EU-Integration Estlands verweisen gerne auf die fabelhaften Kenntnisse ihres Präsidenten, um damit auch das Land zu beschreiben: Zupackend gibt sich Estland, wenn es um die Beschleunigung der Integration geht, und pragmatisch bereitet es sich besonders in wirtschaftlichen Belangen auf den Tag der endgültigen Aufnahme in den wohl exklusivsten Staatenclub der Welt vor.

Der Beitritt des baltischen Landes ist für die rund 1,5 Millionen Einwohner besonders attraktiv, weil der große Nachbar Rußland bislang erfolgreich eine Aufnahme in die Nato verhindert und die EU damit zum einzigen Hoffnungsträger Estlands für eine Rückkehr in den ersehnten Westen geworden ist. Der estnische Premierminister Mart Siiman drückt es so aus: "Natürlich ist die EU nicht die Lösung für all unsere Probleme, aber es gibt schlicht keine Alternative."

Der Befund Siimans spiegelte sich im Verhalten Estlands beim Beginn der Beitrittsverhandlungen im November 1998 in Brüssel wider: Als einziges der sechs Bewerberländer verzichtete Estland auf Übergangsfristen bis zur endgültigen Integration. Zypern, Ungarn und Polen forderten etwa Übergangsfristen im Telekom-Bereich, Ungarn außerdem noch in zwei anderen heiklen Gebieten. Gewürdigt wurden die Bemühungen Estlands denn auch von EU-Außenkommissar Hans van den Broek: Die Balten hätten ihre Wirtschaft "extrem schnell" liberalisiert. Der damalige Ratsvorsitzende und österreichische Außenminister Wolfgang Schüssel schwärmt gar, dies sei "einmalig in der Geschichte der Union".

Estland, das mit viel Verve versucht, sich mehr mit den skandinavischen Staaten Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen und Island zu vernetzen, kann sich eine solch schnelle Liberalisierung (noch) leisten. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 2,3 Prozent, die Wachstumsrate bei 11,4 Prozent. Inzwischen gilt das kleine Land als erfolgreiches Double Norwegens. Doch während Norwegen dank gewaltiger Ölreserven noch die nächsten vierzig Jahre aus dem vollen schöpfen kann, baut sich Estland eine führende Position im Bereich innovativer Technologien auf. Estnische Computerfirmen müssen mangels Arbeitskräften inzwischen in den USA und Westeuropa Stellenangebote plazieren. Zumindest für die nächsten Jahre werden Experten aus dem Westen gebraucht, bis auch das estnische Bildungssystem die Umstellung zur Kaderschmiede für EDV-Genies geschafft hat.

Ironischerweise gehören aber gerade jene, die seit dem Zweiten Weltkrieg das sowjetische Regime in Estland gestützt haben, nun zu den fanatischsten Befürwortern eines Beitritts zur EU: Die rund 29,4 Prozent Russen unter der estnischen Bevölkerung hoffen durch den EU-Beitritt auf ein Ende der Diskriminierung. Bisher verweigert ihnen die estnische Regierung die Staatsangehörigkeit und bastelte auch sonst allerlei Barrieren, um die Russen in Schach zu halten.

Doch die EU forderte ein Ende dieser sanften Apartheid und Estland gehorchte - wie immer pragmatisch und schnell. Pünktlich zu Beginn des Wiener EU-Gipfels im Dezember verabschiedete der Reichstag ein Gesetz, das die Einbürgerung russischer Kinder erleichtert. Allen nach 1992 in Estland geborenen russischen Kindern wurde die estnische Staatsangehörigkeit zuerkannt. Russen, die vor diesem Zeitpunkt geboren wurden, müssen eine Sprachprüfung ablegen, um die Staatsangehörigkeit zu erlangen. Aber auch diese Hürde wird fallen, wobei estnische Nationalisten den Druck durch die EU in dieser Frage gar nicht leiden können. Besonders im Hinblick auf Deutschland meint die Opposition, die EU mißbrauche das Baltikum als "Versuchsfeld bei den eigenen Gesetzen zur Staatsangehörigkeit".

Auch der bislang eng geknüpfte baltische Staatenbund wird durch die estnische Stromlinienförmigkeit gesprengt. Den Nachbarn Litauen und Lettland fehlt bislang jedes Verständnis für die Bevorzugung Estlands durch die EU. Gut möglich, daß in diesen Staaten das Pendel bald in die andere Richtung ausschlägt und die Enttäuschung ein Wiedererstarken des nur leicht eingeschlafenen baltischen Nationalismus zur Folge hat.