Hallo, Herr Kaiser!

Wie einmal der oberste Feuilletonist der Süddeutschen gerade noch verhindern konnte, daß sein 70. Geburtstag vergessen wird

Gewiß, notierte der Feuilletonist am 28. Januar in der Süddeutschen Zeitung, gewiß sei der verstorbene Bayerische Staatsintendant August Everding kein Regiegenie gewesen, aber doch ein Künstler und ein Macher, vor allem aber: "Ich kannte ihn gut. Meine erste Theaterkritik, im Januar 1959, galt einer Everding-Inszenierung." In den langen Jahren seiner Nebenbeschäftigung als Kultur-Leitartikler der SZ haben wir eins vom Klassikkenner Joachim Kaiser gelernt - nämlich, worin die eigentliche Kompetenz eines Kritikers besteht.

"Alle Autoren" schrieb er in seinem Standardwerk "Erlebte Literatur", "von deren Büchern oder Gesamtwerken hier die Rede sein wird, habe ich" - nicht etwa gelesen, wie nur ein Kulturbanause erwarten könnte, sondern - "persönlich kennengelernt, gesehen, gesprochen, als Vortragende oder Zelebritäten erlebt. (...) Und daß ich mit vielen jüngeren Autoren gut bekannt oder gar befreundet war oder bin, zumal wenn sie der Gruppe 47 nahestanden, zu deren Tagungen H.W. Richter mich seit 1953 einlud, ließ eine Tuchfühlung entstehen, auf die man als Kritiker nicht verzichten sollte, falls sie nicht zur Befangenheit oder zu falscher Kameraderie führt." Ein Kriterium zudem, das die Auswahl der zu behandelnden Sujets ungemein erleichtert, denn zwar "wirkte auch ein Kafka, ein Musil oder ein Rilke in die Nachkriegszeit hinein. Aber diese Großen waren 1945 bereits tot." Und konnten dem Kaiser persönlich nicht mehr begegnen.

Bei den teilweise ignoranten Zeitgenossen ließ sich der Kontaktsuchende dafür nicht einmal durch ihre distanzierte Haltung beirren: "Mit Max Frisch bin ich fast befreundet, seit ich ihn, Mitte der fünfziger Jahre (...), in Zürich besuchen durfte, und zwar, um ihn zu bitten, er möge doch aus seiner Tagebuchparabel 'Der andorranische Jude' einen Hörspieltext machen. Das tat er dann zwar nicht - wohl aber brachte ihn mein Verlangen vielleicht doch auf die Idee, sein später so berühmtes Andorra-Drama zu schreiben."

Nun erschien jedoch kürzlich in der SZ-Kolumne "Zwischenzeit" ein Beitrag des Joachim Kaiser, der seine Exegeten (und selbst diejenigen, die mit ihm persönlich bekannt sind) in tiefste Verwirrung stürzen mußte: keine einzige Erwähnung eines berühmten alten Weggefährten, kein Dirigent, der ihm, dem Kaiser, ein intimes Detail ins kunstverständige Ohr raunt, kein "Und ich schätze mich glücklich, Rubinstein oft (und auch persönlich) begegnet zu sein" und auch sonst kein feinsinnig versteckter, wie nebenbei (und oft in Klammern) ausgesprochener Hinweis auf den eigentlichen Anlaß seines als Rezension, Premierenbesprechung oder gepflegte Essayschmöckerei getarnten unermüdlichen Mitteilungsbedürfnisses.

Statt dessen macht uns Kaiser auf das Versäumnis aufmerksam, im Wirbel um "Bubis' (Über)Reaktion, er spüre in Walsers Worten Antisemitismus (...)", die sehr viel wichtigere von Peter Stein angeregte Debatte über allzu "spaßige" moderne Inszenierungen der Klassiker einfach ignoriert zu haben. Niemand hielt es für nötig, sich mit Stein gegen das Unheil zu verbünden - außer Kaiser: "Wer diese Überzeugung zwar auch teilt, doch aus Bequemlichkeit oder Resignation nicht (mehr) vertritt, macht sich mitschuldig, falls die Theaterkunst, die Sprache der Tragödien, aufhörte."

Tatsächlich wird den begriffsstutzigen Exegeten erst zehn Tage später klar, worin die eigentliche Botschaft dieser doch scheinbar ganz überflüssigen Untermauerung des altbekannten traditionsbewahrenden Standpunkts liegt. Den Schlüssel birgt die gegen den möglichen Einwand, es handele sich beim Streit um moderne Klassiker-Adaptionen nur um einen Generationskonflikt, vorgebrachte Anmerkung: "Mir (69) geht es so, daß ich kesse Umfunktionierungen zwar intellektuell kapiere, ja durchaus einleuchtend finde."

"Mir (69)" - hatten wir nicht geahnt, daß der Klammer im Kaiserschen Îuvre zentrale Bedeutung zukommt? Genau zehn Tage vor seinem 70. hatte Kaiser die lieben Kollegen nur rechtzeitig an die noch zu treffenden Geburtstagsvorbereitungen erinnern wollen. Die waren dann auch weniger schwer von Begriff und dankten es ihm am 18. Dezember 1998 mit zwei ganzseitigen Beiträgen im SZ- Feuilleton zum 70. "unseres Kaisers" und dem "fortwährenden Vergnügen", ihn zu lesen.

In drolligen Anekdoten beneiden ihn fünfzehn namhafte Kritiker um die "Leichtigkeit des Schreibens", die "den großen J. K.", wie Reinhard Baumgart berichtet, nach einer Premierennacht statt mit dem fertigen Manuskript am nächsten Morgen "mit nichts, nur mit guter Laune" in die Redaktion kommen läßt: Er "hatte abends noch fabelhaft gut gegessen und getrunken und würde nun auf und ab wandernd sein gestern Abend Erlebtes in die Maschine diktieren" - dabei übrigens noch zusätzlich "phantasiebeschwingt" (J. K.) durch sein eigenes Spiegelbild, auf das, wie in dem Fernsehporträt "Der Klassik-Kaiser" jüngst zu erfahren war, sein aufmerksamer Blick beim sinnierenden Umherwandeln im perfekt ausgestatteten Bureau fällt. Unser Neid aber gilt den Kollegen von Urs Jenny (Spiegel) bis Siegfried Schober (stern): Denn sie alle kennen Kaiser (offenbar auch persönlich).