»Lust auf Politik«

Daniel Cohn-Bendit entwickelt die Revolutionstheorie weiter und kandidiert fürs Europaparlament

"Das verschimmelte Frankreich" entdeckte der Schriftsteller Philippe Sollers in einem Gastkommentar, der am vergangenen Donnerstag auf der Titelseite von Le Monde erschien. "Das verschimmelte Frankreich", das ist eine illustre Mischung von politischen und sozialen Kräften: Vichy und der Front National finden sich hier, die französische KP ("Moscou-sur-Seine"), der linkskeynesianische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu sowie radikale Gewerkschafter. Was haben diese durchaus heterogenen Orientierungen ("Das soziale Nationale oder das nationale Soziale", faßte Philippe Sollers sie zusammen) miteinander gemeinsam?

Sie haben gemeinsam, daß sie Daniel Cohn-Bendit, den Spitzenkandidaten der französischen Grünen für die Europawahlen im Juni 1999, kritisiert haben. "Er ist nicht wie wir, er kommt nicht daher, wo wir herkommen, und das beunruhigt umso mehr, als das 21. Jahrhundert sich als Apokalypse präsentiert", legt Sollers den Kritikern Cohn-Bendits in den Mund, um zu schließen: "Ein Europäer deutscher Herkunft kommt, um Frankreich aufzuwühlen? An dieser Stelle ist es ein europäischer Schriftsteller französischer Herkunft, der sich dazu beglückwünscht."

Daniel Cohn-Bendit, 1945 im südwestfranzösischen Montauban geborenes Kind deutscher jüdischer Flüchtlinge, hatte mit 13 seine Eltern bei ihrer Rückkehr in die BRD begleitet und kam Mitte der sechziger Jahre zum Studieren zurück nach Frankreich. Bekannt wurde er 1967/68 durch seine Sprecherrolle während der Studentenunruhen. Seine vom Innenminister veranlaßte Ausweisung aus Frankreich im Mai 1968 hatte zu Solidaritätsdemonstrationen unter dem Slogan "Wir sind alle deutsche Juden" geführt. Obwohl eher anarchistischen Strömungen nahestehend, erhielt er damals seinen Spitznamen Dany le Rouge. Der hängt ihm noch heute an, wobei auch in Frankreich aus dem "roten" längst ein "grüner Dany" geworden ist.

An dieses biographische Kapital knüpfte Cohn-Bendit 30 Jahre später wieder an, als er seine spektakuläre Rückkehr in die französische Politik vorbereitete - das Einreiseverbot war schon Ende der siebziger Jahre aufgehoben worden, als er vorübergehend in einem Pariser Verlagshaus arbeitete. Pünktlich zum Jahrestag der Pariser Mai-Ereignisse tauchte der zum grünen "Realpolitiker" in Frankfurt/Main gewandelte Daniel Cohn-Bendit erneut an den Orten des Geschehens von einst auf.

Erstmals äußerte er dabei in der Öffentlichkeit, daß er "große Lust" verspüre, im darauffolgenden Jahr als Listenführer der französischen Grünen in den Wahlkampf fürs Europaparlament zu ziehen.

Die erste Phase der Debatte um die Kandidatur Cohn-Bendits war durch die Euphorie der großen Medien geprägt. Mitte November verbrachten siebzig Journalisten ihr Wochenende in der Pariser Trabantenstadt Noisy-le-Grand, wo Cohn-Bendit bei dem Kongreß der Ökopartei Les Verts zum ersten Mal vor französischem Publikum als Spitzenpolitiker auftrat. Und soviel Publizität genoß die Umweltpartei noch nie: Die Eröffnung der Abendnachrichten auf allen großen Fernsehkanälen, eine Polit-Talkshow am Sonntagabend und die Titelseiten von Le Monde und Libération waren Cohn-Bendit gewidmet.

Gleichzeitig gab es auch zunehmend Kritik an Cohn-Bendits Vorstellungen. Ihren Höhepunkt fand diese in der Sonderausgabe der Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles zum Jahreswechsel 1998/99, für die Bourdieu als "Chefredakteur auf Zeit" eingeladen worden war und an der Intellektuelle sowie Kollektive aus den sozialen Bewegungen mitgewirkt hatten. Serge Halimi, Schriftsteller und Universitätsdozent, nahm dort Cohn-Bendits Rolle als "Verkörperung der politischen 'Modernität'" aufs Korn.

Die Kritiker erinnerten an das famose "Kleine Wörterbuch des Euro", das Cohn-Bendit im April 1998 zusammen mit dem Universitätslehrer Olivier Duhamel herausgegeben hatte - und das mit dem Buchstaben A wie "Avantages" (Vorteile) beginnt, aber kein Sterbenswörtchen über die Nachteile der EU-Währungsunion verliert. Und sie zitierten aus seinem letzten Buch "Une Envie de politique" ("Lust auf Politik"), worin der frühere Rebell sich etwa für die Privatisierung von Post, Telekommunikation und Fernsehen ausspricht oder für die Beteiligung privater Unternehmen an der Finanzierung der Schulen.

Während die ersten Kritiken zirkulierten, profilierte sich Cohn-Bendit mit einem betont "linken" Diskurs zu gesellschaftspolitischen Themen wie der Drogenpolitik, der Rehabilitierung von Deserteuren der französischen Armee im Ersten Weltkrieg sowie zur Situation der "illegalen" Immigranten, der Sans-papiers. Damit gewann er in der Öffentlichkeit ein fast radikales Image als "Stachel im Fleisch" der Regierung.

Auffällig blieb jedoch, daß seine oft radikal anmutende Kritik zwar mitunter an konservative Haltungen der Regierung anstieß, ohne aber dabei an die gesellschaftliche Ordnung zu rühren. So äußerte er etwa bei dem Thema der "illegalen" Immigration Sympathie für die Immigrationspolitik eines Patrick Weil, Autor eines vom Premierminister bestellten Reports, der die Schließung der Grenzen für Habenichtse und ihre (relative) Öffnung für diejenigen befürwortet, die kulturelle und materielle Vorteile für Frankreich bringen.

Serge Halimi hat also recht, wenn er schreibt: "Es kommt auch vor, daß ebenso, wie die Werbefachleute die Themen des Protests oder der Rebellion zu kommerziellen Zwecken wiederverwerten, ehemalige Rebellen ihr (...) Profil nutzen, um in die neuen Kleider der Herrschaft zu schlüpfen. (...) Der Marktteilnehmer verkauft Rebellion, der Rebell lobt den Markt, ihr Zusammenstoß resümiert die Ideenwelt."

Andernorts sind um Cohn-Bendit pseudo-kritische Debatten entflammt. Neben der alten "nationalen Identität" wird derzeit mit dem "europäischen Bürger" eine zweite "Identität" geschaffen - für diejenigen, denen die traditionelle nicht modern und weltoffen genug erscheint. Auf diesem neuen Identifikationsangebot läßt sich ein "moderner", in Wirklichkeit sehr konformistischer Diskurs aufbauen. Daniel Cohn-Bendit macht es vor, wenn er propagiert, die aktuelle EU-Entwicklung spüle alle konservativen Verkrustungen mit sich fort und seine neue "Revolutionstheorie" in eine Gleichung packt: "Internet + Euro = Revolution". Das finden nicht alle gut, die Verfechter der "alten", nationalen "Identität" schlagen zurück - und der Konflikt zwischen zwei mystifizierten "Identitäten" kann sich entfalten.

Dafür sorgte maßgeblich der amtierende Innenminister, der Linksnationalist und Chef der Kleinpartei Mouvement des citoyens, Jean-Pierre Chevènement. In einem Fernsehauftritt am 10. Januar sagte der: "Das ist das Gesetz des Dschungels, das ist Liberalismus. Daniel Cohn-Bendit (...) ist ein wenig der Vertreter der globalisierten Eliten - dessen, was ein Essayist, Gilles Ch‰telet, den 'merkantilistischen Anarchismus' nennt, die Ideologie derer, die im Markt letztendlich die anarchistische List der Geschichte sehen. Ich denke, er verdient, bekämpft zu werden." Eine Äußerung mit impliziten Anklängen an den Diskurs der katholisch-reaktionären Rechten vergangener Jahrzehnte gegen die deutschen Juden.

Zuvor hatten die Gewerkschaften CGT und FO in der Atomfabrik von La Hague handgreiflich einen Besuch Cohn-Bendits verhindert - der grüne Politiker wollte mit den Beschäftigten diskutieren. Der bornierte Eifer, mit dem vor allem der KP-nahe Flügel der französischen Arbeiterbewegung die Nuklearindustrie verteidigt, läßt Cohn-Bendits Position als geradezu progressiv erscheinen - wobei aber seine Begründung strikt neoliberal ist: Bei einer Privatisierung der Stromindustrie in Westeuropa habe die Atomindustrie, da sie zu zentralisiert und zu unrentabel sei, ökonomisch keine Chance.