Die Nation als Purgatorium

Martin Walsers jüngste Ich-Überschreitung.

Ein Leitmotiv der Friedenspreisrede Martin Walsers lautet: Mit seinem Gewissen sei jeder allein, woraus er - mit Martin Heidegger - folgert: "Schuldsein gehört zum Dasein selbst" (1998, 21).

Diese fundamentale Einsicht möchte Walser allen "Gewissenswarten" (1998, 23) und "Meinungssoldaten" (1998, 25) entgegenhalten. Zwar nennt er keine Namen, doch läßt sich unschwer erraten, wer gemeint ist: Es sind dies Intellektuelle wie Günter Grass und Jürgen Habermas, die, mit Hilfe der Medien, angeblich fortwährend allen Zeitgenossen ihres Landes "die Schande" vorhalten möchten, die sich aus Auschwitz herleitet. Und dies als Folge einer verhängnisvollen Illusion, "sie hätten sich, weil sie (...) im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern" (1998, 17).

Gegen solch leichtfertige Entschuldungsabsicht richtet sich die Polemik Walsers, der selbst "es nie für möglich gehalten" habe, "die Seite der Beschuldigten zu verlassen" (1998, 17). Begründet wird diese seine schlechthinnige Verbundenheit mit dem Volk bereits in einer Rede aus dem Jahre 1965, die - vermutlich ein Echo auf Thomas Manns Essay "Bruder Hitler" (1939) -, den Titel "Unser Auschwitz" trägt. Darin heißt es: "Wenn aber Volk und Staat überhaupt noch sinnvolle Bezeichnungen sind für ein Politisches, für ein Kollektiv also, das in der Geschichte auftritt, in dessen Namen Recht gesprochen und gebrochen wird, dann ist alles, was geschieht, durch dieses Kollektiv bedingt, dann ist in diesem Kollektiv die Ursache für alles zu suchen. Dann ist keine Tat mehr bloß subjektiv, dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache. Dann gehört jeder zu irgend einem Teil zu der Ursache von Auschwitz. Dann wäre es eines jeden Sache, diesen Anteil aufzufinden" (1968, 20 f.).

Dieses Schlüsselzitat enthält eine Reihe von Bestimmungen, die beachtet werden sollten, will man Walsers neueste Provokation begreifen. Ist es doch für das Weltbild des Preisträgers charakteristisch, daß er fast nirgends von Gesellschaft, sondern durchweg vom Volk oder von "Volk und Staat" spricht. Damit befindet er sich in der Tradition eines national-völkischen Deutungsmusters, das in Deutschland schon lange vor der Zeit des Nationalsozialismus gang und gäbe war. Ist "das Kollektiv", will sagen: das Volk, die letzte Ursache allen Geschehens, so verschwindet der Subjektanteil der einzelnen Akteure zugunsten eines großen Ganzen, dem man - im Sinne einer unauflösbaren Schicksalsgemeinschaft - kraft Taufschein auf Gedeih und Verderb zugehört.

Demzufolge ist auch subjektiv gemeintes Handeln bei Licht gesehen in Wahrheit ein durch und durch vom Volksganzen her bestimmtes Tun, schließlich Ausdruck einer völkischen Einheit. Bezogen auf "die Schande", deren Vorhandensein Walser ja keineswegs leugnet, heißt dies, daß ein jeder als Glied seines Volkes zu einem Teil an dieser "Schande" teilhat. Folgerichtig könne denn auch im strengen Sinn keiner so gegebenen Schicksalsgemeinschaft entrinnen, sind wir doch, theologisch gesprochen, "Sünder allzumal".

Das Heidegger-Wort von der "Schuld", die zum menschlichen Dasein unzertrennlich gehört, ist die säkularisierte Variante solch politischer Theologie, die, samt der Rede vom einsamen, rein persönlichen Gewissen, ihren Ursprung im Lutherischen Protestantismus hat. Gehört Schuldigsein aber zum Dasein schlechthin, so wird die von jedem einzelnen aufgenommene "Schande" zum Signum seiner Volksverbundenheit selbst.

Von diesem Grundsatz her kritisiert Walser die deutschen Intellektuellen, die, volksfremd und geschichtsvergessen, stets aufs neue einen nationalen Ausnahmezustand zu ihren Gunsten instrumentalisieren möchten, indem sie sich der völkischen Schuldgemeinschaft zu entziehen trachten. In diesem Sinne heißt es in einem Beitrag aus dem Jahre 1979: "Mir kommt es so vor, als hätten sich unsere Intellektuellen nach 1918 vom Volk getrennt und hätten seitdem die Erfahrung, die man im Volk, mit ihm und durch es hatte, verdrängt" (1979, 46).

So gesehen ließe sich mit Walser von einem "Sonderweg" der Intellektuellen sprechen. Von da aus erklärt sich sein Beharren auf der konkreten Realität des Volkes als einer substantiellen Einheit. Erst aus dieser Sicht erhalten die Invektiven gegen den "Zeitgeist", die Walsers politische Reden und Schriften seit je durchziehen, ihr spezifisches Aroma. Für ihn sind und bleiben Begriffe wie "Heimat", "Volk" und "Nation" ontologische Substanzen, an denen man - bei Strafe der Seins- und Geschichtsvergessenheit - teilhaben müsse, durchaus im Sinne einer "schlechthinnigen Abhängigkeit".

Ist dem aber so, dann muß jedwede Schuldzuweisung an irgendwelche Einzelpersonen oder Gruppierungen, zumal vorgenommen von Intellektuellen, schließlich scheitern, entspringt deren "grausamer Erinerungsdienst" (1988, 17) doch bloß eitler Ich-Sucht und hybridem Anarchismus, volksfremden Überlegenheitsillusionen oder schwatzender Besserwisserei. Solch sträfliches Tun wird Walser zum Ausweis eines von ihm diagnostizierten Seelenzustandes, den er, dem Historiker Heinrich August Winkler zustimmend, einen "negativen Nationalismus" nennt (1998, 20), der sich auf Kosten anderer ein gutes Gewissen verschaffen möchte (1998, 21).

In Anbetracht der nur gemeinsam zu tragenden kollektiven "Schande" hilft jedoch kein Sich-Identifizieren-Wollen mit den Opfern über den Schuldanteil eines jeden hinweg. Denn hier gilt abermals der eherne Grundsatz: "Ein gutes Gewissen ist keins. Mit seinem Gewissn ist jeder allein" (1998, 22). Walser leugnet weder Auschwitz noch auch die Ungeheuerlichkeit der Naziverbrechen. Was er jedoch entschieden leugnet, ist die Möglichkeit einer nachträglichen Schuldverteilung. Sind wir kraft konkreter Zugehörigkeit zu "Volk und Staat" tragischerweise zum Objekt der "Schande" geworden, so kann und darf sich dem keiner entziehen.

Daß solches Entrinnen-Wollen überhaupt möglich wurde, ist Walser zufolge nur dem fatalen Umstand geschuldet, daß unsre "nationale Rationalität selbst" seit 1945 gestört ist (1979, 44), war doch die jahrzehntelang durch den Siegerwillen erzwungene Trennung der deutschen Nation "eine andauernde Quelle der Vertrauensvernichtung" (1979, 45). Walsers Vorwurf an die zeitgenössischen deutschen Intellektuellen gipfelt denn auch in einem nachgerade populistisch anmutenden Geschichtsbild: "Das Volk 'als deutsches Volk' wurde (nach dem Ersten Weltkrieg, K.L.) gedemütigt und ausgeplündert. Von den bürgerlich-feudalen Cliquen der Siegermächte. Die bürgerlich-feudale Clique der Deutschen schlug sich, so gut es gehen wollte, auf die Seite der Sieger: wirtschaftlich und politisch (...). Philosophie und Literatur der zwanziger Jahre waren (...) internationalistisch gesinnt, also sofort fein raus. Die Intellektuellen hatten Roaring Twenties" (1979, 46 f.).

Für Walser gibt es somit einen alles dominierenden Dualismus zwischen dem Volk, das ewig der Dumme bleibt, und jenen gewissenlosen intellektuellen Cliquen, die sich immer wieder auf die Seite der Sieger schlagen, sobald das Staatsschiff gekentert ist. In Wahrheit aber seien die Intellektuellen an 1933 im gleichen Maße beteiligt gewesen wie alle anderen. Sich nachträglich als Opfer stilisierend, gaben sie jedoch die Schuld erneut dem Volk, dem deutschen Michel, Musterschüler zweier Siegermächte, der sein Deutschsein verbergen mußte, um über die Runden zu kommen.

Diese so auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Jahrzehnte hindurch erzwungene nationale Dekomposition hat, im Verein mit der bis heute beschworenen "Moralkeule Auschwitz", die Deutschen schließlich krank gemacht. Erst "wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden" (1979, 48). Deutsche "Daseinsverfehlung" ist somit der Grund aller Leiden, die Entfremdung der Intellektuellen vom Volk ein Symptom dieses desolaten Zustandes.

Rettung sieht Walser allein in einer erneuten Hinwendung zur Transzendenz, die er als Ich-Überschreitung begreift: "Ich muß zugeben, eine rein weltliche, eine liberale, eine vom Religiösen, eine überhaupt von allem Ich-Überschreitenden fliehende Gesellschaft kann Auschwitz nur verdrängen. Aufnehmen, behalten und tragen kann man nur miteinander." (1979, 48)

Allein das spätestens seit der deutschen Vereinigung fällige Bekenntnis zu einer unauflöslichen nationalen Schuldgemeinschaft - nicht zu verwechseln mit einer "Kollektivschuld"! - könnte Walser zufolge den Bann von Auschwitz lösen, der alles politische Leben bis heute lähmt. Solidarität einer mit sich versöhnten und dadurch "normal" gewordenen Nation wäre das einzige Purgatorium aus der Hölle subjektivistischer Ichverfallenheit, die Heidegger wohl der "Welt des Man" zugeschrieben hätte. Die Quelle allen Übels und des deutschen Unglücks besteht somit - folgt man Walser - vor allem darin, daß eine gewissen- und gesinnungslose Intellektuellenkaste sich über das Volk erheben konnte, die mit ihrer "Moralkeule" blindlings um sich schlägt, um so ihre eigene innere Zerissenheit zum Prinzip des Ganzen zu erklären.

In seiner Kennzeichnung dieses "aktuellen Intellektuellen", der damit gewissermaßen zum "Volksfeind" wird, gerät Walser freilich in eine gewisse Nähe zu Strömungen einer wohlbekannten Heimatliteratur: "Schöne Ausbrüche der Ichsucht, autoerotisches Babytum und die ständig gefeierte Selbstmordwürdigkeit der menschlichen Existenz sind das Lieblingsspiel. Ich vermute, daß seit Beckett der Geschichtsverlust in der Literatur drastisch zugenommen hat (...). Wenn dieser Anti-Fraktion der Lebenssinn nicht von Wegrändern und Alleebäumen entgegenblüht, sagen sie, es gäbe keinen. Dabei könnte es doch sein, daß Sinn ein Projekt ist wie Licht, Wärme, Weizen und Milch" (1979, 48). Modell für diesen Intellektuellen stand Walser 1979 noch der ein Jahrzehnt zuvor verstorbene Theodor W. Adorno, einst Lehrer des nun in der Friedenspreisrede vorgeführten Jürgen Habermas.

Nimmt man Walsers Attacke als literarisches Manifest, so führt die darin zum Ausdruck kommende Stoßrichtung gegen intellektuelle "Zersetzung" auf die Spuren einer Heimatkunst, wie sie als Reaktion auf "die Moderne" und den "Modernismus", seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts nicht allein die Trivialliteratur in Deutschland beherrschte. Kaum anders läßt sich das herzenswärmende Bekenntnis deuten, mit dem Walsers jüngste Paulskirchen-Rede ausklingt: "Alles ist viel schöner, als man bisher sagen kann. Und sagen kann man bisher schon sehr viel, denn wir haben ja schon viel geschaffen, um auszudrükken, wie schön es ist. Wir machen neue Anläufe und versuchen immer neu, auszudrücken, wie schön alles ist. Aber schöner ist es trotzdem noch immer, als man es sagen kann" (1998, 28).

Das unsäglich Schöne, hier durch den Mund seiner Tochter Johanna beschworen, gehört seit je zum Parfüm einer Erbauungsliteratur, die volksverbundene Dichter ihrer Nation schenken. Freilich gehört zum wahren Erleben solcher Schönheit ein schlichtes Gemüt, noch nicht angekränkelt vom seinsvergessenen Zeitgeist. Diesem zu wehren, ist Walser seit langem ausgezogen. Es scheint, daß er nun, in der anbrechenden "Berliner Republik", endlich angekommen ist.

Zitierte Literatur:

Martin Walser (1968): Unser Auschwitz, in: Heimatkunde, Frankfurt / Main

Ders. (1979): Händedruck mit Gespenstern, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit', Bd. 1, Frankfurt / Main

Ders. (1998): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Frankfurt / Main

Der Beitrag von Kurt Lenk erschien zuerst in Das Argument, Nr. 229, Heft 1 / 1999: "Frauen Macht Sprache".