Menems Gesichtskontrolle

Die argentinische Regierung macht gegen Ausländer mobil

Der Sommer in Buenos Aires ist gewöhnlich stürmisch - auch auf der politischen Ebene. Vor allem im Januar, wenn die Beamten und Angestellten Ferien machen und in der Stadt nur noch die Armen und die hitzegeplagten Touristen zurückbleiben, sieht man sich regelmäßig genötigt, etwas gegen die Monotonie des Sommerlochs zu unternehmen. In diesem Jahr ist es die Regierung, die mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im November ihre Ausgangsposition zu definieren sucht.

"Das Verbrechen in der Hauptstadt ist inzwischen Ausländersache", erklärte der Chef der Einwanderungsbehörde, Hugo Franco. "Die Illegalität führt zu Marginalität und die Marginalität zum Verbrechen. Mehr als 60 Prozent der kleineren Verbrechen wie Straßenraub und Diebstahl von Autoradios werden von Ausländern verübt." Somit war das Klima geschaffen, in dem ein neues Einwanderungsgesetz vorgestellt werden konnte, nach dem künftig die Exekutive bevölkerungspolitische Kriterien und Fristen für die Aufnahme von Ausländern vorschreiben kann.

Doch dieses Gesetzesprojekt ist nur die Vorbereitung eines umfassenderen Pakets repressiver Gesetze gegen die verarmten Bevölkerungsschichten, die außerdem die Einführung der Todesstrafe, die Senkung der Strafmündigkeit von 16 auf 14 Jahre und die Einführung von Rechtsfiguren wie der des "Marodierens" vorsieht, womit eine unerwünschte Physiognomie unter Strafe gestellt wird.

Präsident Carlos Menem verteidigte den Gesetzentwurf mit den Worten: "Argentinien schlägt niemandem die Tür zu. Wir lassen nur diejenigen nicht herein, die in unser Land kommen, um Verbrechen zu begehen. Diese kommen oftmals ohne gültige Papiere aus verschiedenen Teilen des Kontinents, um sich hier in Banden zu organisieren."

Die heute als Illegale Bezeichneten hießen früher einmal "Lateinamerikaner". Die Mehrheit der Migranten in Argentinien stammt aus Peru, gefolgt von Paraguayern und Bolivianern, die auf der Flucht vor grassierender Armut nach Arbeit suchen.

Offiziellen statistischen Daten zufolge haben 1997 2 372 von ihnen eine legale Aufenthaltserlaubnis erhalten, hingegen wurden 2 682 Peruaner 1998 ohne geregelten Aufenthaltsstatus aufgegriffen. Nach Einschätzung der Stadtverwaltung von Buenos Aires leben viele von ihnen in einem der rund 10 000 besetzten Häuser; manchmal können vier oder fünf Familien auch gemeinsam die Miete für eine Zwei- bis Dreizimmerwohnung aufbringen.

Die meisten Bolivianer ziehen in die Provinzen, um in der Zuckerernte oder auf den Landgütern im Süden zu arbeiten, und kehren nach Ende der Erntezeit in ihr Land zurück. Da sie schwarzarbeiten, sind die Löhne ebenso miserabel wie die Bedingungen, unter denen sie monatelang leben müssen. Auch diejenigen, die es in die Städte zieht, zumeist Peruaner und Paraguayer, werden schwarz angeheuert, zu Löhnen, die noch unter dem argentinischen Mindestlohn liegen. Eine Peruanerin berichtet, für 300 Pesos (etwa 300 Dollar) im Monat von 8 Uhr morgens bis 10 Uhr abends an einer Heißmangel arbeiten zu müssen.

Alle drei oder vier Monate zeigt das Fernsehen einen spektakulären Polizeieinsatz in Nähereibetrieben, bei dem illegal eingewanderte Bolivianer aufgegriffen werden. Diese Menschen leben unter Bedingungen der Sklaverei: Sie schlafen und essen vor Ort, arbeiten bis zu 16 Stunden täglich und dürfen die Näherei nicht verlassen.

Doch die Armut kommt nicht nur von außen. Die Arbeitslosigkeit in Argentinien wächst, und die Verarmung der Unter- und Mittelschichten schreitet voran. Seit einigen Jahren verläuft der internationale Drogenhandel durch das Land. Nicht allein im exklusiven Bereich der Geldwäsche - in die, wie mittlerweile auf Eis gelegte Untersuchungen ans Licht brachten, ein großer Teil der Regierung verwickelt ist -, Argentinien dient nunmehr auch als Umschlagplatz für Kokain nach Europa.

Ein Gramm Kokain für 20 Pesos aufzutreiben ist heute leicht, und viele Jugendliche ohne Arbeit und ohne irgendeine Perspektive, jemals welche zu bekommen, konsumieren es. Oftmals ziehen sie auf Koks los zum Klauen; immer mehr kleinere Diebstähle enden in blutigen Schießereien. Vor einigen Tagen wurde eine Frau, die mit ihrem Mann und ihrem geistig behinderten Sohn unterwegs war, von zwei bewaffneten Jugendlichen im Alter von 14 und 16 Jahren erschossen. Tags darauf wurden sie von der Polizei im Elendsviertel La Cava verhaftet, das gleich neben den Prunkvillen der argentinischen Geldaristokratie liegt. Tags darauf legte die Regierung ihr neues Einwanderungsgesetz vor.

Doch während die Regierung Menem nicht müde wird zu behaupten, die Mehrheit der kleineren Delikte werde von Ausländern verübt, wird dies selbst von der Bundespolizei dementiert. Deren Chef erklärte, die Beteiligung von Ausländern an Straftaten liege bei höchstens sieben Prozent. Auch dabei handelt es sich noch um ungefähre Zahlen, da die Polizeistatistiken in Argentinien nicht öffentlich zugänglich sind - was einiges über die unkontrollierbare Macht der Ordnungshüter aussagt.

Jedenfalls nahm die wegen Korruptions- und Mordvorwürfen immer mehr in Verruf geratene Bundespolizei den Gesetzentwurf sofort zum Anlaß für eine regelrechte Hexenjagd auf "illegale" Immigranten. Seit Anfang Januar finden auf den Zentralbahnhöfen regelmäßig Großeinsätze zur Festnahme "illegaler" Ausländer statt; auf einem einzigen Kommissariat im Stadtviertel Once werden täglich im Durchschnitt 60 "Illegale" aus lateinamerikanischen Ländern in Haft genommen.

"Wie wählen Sie bei den Personenkontrollen die Leute aus?" "Na ja, sie fallen unter eine bestimmte Physiognomie. Wir schauen uns ein bißchen um und sehen, was Sache ist", sagte Kommissar Ricci am 21. Januar in einem Interview. Wonach sich der Kommissar "ein bißchen umschaut": das Erkennen physischer Züge, die eine indianische Abstammung "verraten". Schmale Augen, dunklere Haut und ärmliche Kleidung reichen aus, um von der Polizei festgenommen zu werden.

Nach einer Erhebung des Justizministeriums vom Ende vergangenen Jahres sind 40 Prozent der Einwohner von Buenos Aires im vergangenen Jahr Opfer von Mundraub, Einbrüchen oder Überfällen geworden. Diese Zahl - die nicht über die Nationalität der Täter, sondern lediglich über die Klagen der Befragten Auskunft gibt - scheint maßgeblich für die Entscheidung der Regierung gewesen zu sein, im Wahljahr eine öffentliche Debatte über Illegalität und Immigranten vom Zaum zu brechen.

Für die aber ist es fast unerschwinglich, einen legalen Status zu erreichen. Bei der Einwanderungsbehörde bekommt man die "schnelle Aufenthaltserlaubnis" für 1 200 Pesos. An der Grenze verlangen die Gendarmen 400 Dollar für jeden Passierschein. Das Verfahren, um sich legal im Land niederlassen zu dürfen, kostet mindestens 550 Dollar. Einreisedokumente müssen sowohl in Argentinien wie im Ursprungsland bezahlt werden, dazu die Migrationssteuer und die Beglaubigung durch einen öffentlichen Notar. Vorzuweisen ist entweder ein Kind, ein Ehepartner oder ein Elternteil, die in Argentinien gebürtig oder legal ansässig sind, oder aber ein Arbeitsvertrag für mindestens ein Jahr.

Diese Bedingungen zu erfüllen ist so gut wie unmöglich. War es früher noch ein Delikt, "subversiv" zu sein, so scheint die Demokratie mittlerweile die Armut unter Strafe gestellt zu haben. Die Opposition hüllte sich gegenüber dem neuen Gesetzesvorhaben und den gewaltsamen Polizeieinsätzen nahezu in Stillschweigen. Der mehr als laue Tonfall der Reaktionen auf die ausländerfeindlichen Deklarationen Menems machte so zugleich die gegenwärtige Bandbreite des politischen Spektrums in Argentinien deutlich. Der Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses Alianza, Fernando De La Rua, beschränkte sich auf die Bemerkung, die Regierung suche "nach Schuldigen, statt sich um das Sicherheitsproblem zu kümmern".

Außer den Menschenrechtsorganisationen äußerte nur die Kirche substantielle Kritik. In einer Stellungnahme der Episkopalkommission für Migrationsfragen heißt es, "die explosive Zunahme von Gewaltverbrechen und Unsicherheit sowie das Dauerproblem der Arbeitslosigkeit sind beides argentinische Probleme, die Mehrzahl der an ihnen Beteiligten sind Argentinier". Die Kommission erklärte, daß viele Immigranten "aufgrund der unendlichen bürokratischen Hürden und Verschleppungsmaßnahmen" illegal blieben und man ihre Situation nur klären könne, "indem die bilateralen Migrationsabkommen mit Bolivien, Peru und Paraguay endlich ratifiziert werden". Die "Suche nach Sündenböcken" habe offenbar politisch Konjunktur.

Doch aller Kritik aus Kirche und Presse zum Trotz funktioniert die Strategie der Regierung. Nicht nur konnte Menem sich erneut als Vertreter einer harten Linie in Szene setzen und damit neue Punkte in seinem Kampf um eine Verfassungsreform und eine erneute Präsidentschaftskandidatur verbuchen. Zudem konnte er wieder einmal eine schwache Opposition vorführen, die lieber die Sicherheit der Mittelklassen zum Thema macht als die Arbeitslosigkeit und die wirtschaftspolitische Lage. Dabei unterstrich er demonstrativ seine Entscheidungsgewalt über die Repressionskräfte in Buenos Aires, einer Hochburg der Opposition, ohne daß von dieser Klagen zu hören waren.

Die Regierung rechnet offenbar mit der Unterstützung der Mittel- und Oberschichten, die an einer Bekämpfung des Verbrechens interessiert sind, und mit derjenigen der Unterschichten, die in den Immigranten vor allem Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt sehen. Es scheint, als könnte ihr Spiel aufgehen.