Ein Underdog ganz oben

Viele Anekdoten, viele Versprechen, viel Armut. Venezuelas Präsident Hugo Ch‡vez nimmt vor allem den Mund voll

Über den neuen Präsidenten Venezuelas, Hugo Ch‡vez, gibt es viele Anekdoten zu erzählen. Beispielsweise die von seinem Kindertraum, Baseballstar in den USA zu werden, was ihn auf eine Militärakademie brachte, weil es dort ein umfassendes Baseballtraining gab - kostenlos. Für die Kommentatoren bietet der 44jährige Ch‡vez jede Menge Stoff - ein Mann, dessen Vergangenheit und Streitbarkeit keinen Bericht langweilig werden läßt.

Dem Ex-Militär selbst dürfte der Kult um seine Person gelegen kommen. Denn das politische Programm, mit dem er am 2. Februar in den Palacio de Miraflores als 20. Präsident eingezogen ist, heißt kurz und einfach: Hugo Ch‡vez. Und dieses Konzept kommt in der Bevölkerung nach wie vor gut an. Bei der Parade zu seiner Amtseinführung jubelten ihm Zehntausende vom Straßenrand zu. Und auch zum 180. Jahrestag des "Kongresses von Angostura", einst einberufen von Ch‡vez' erklärtem Vorbild, dem lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer S'mon Bol'var, genoß er das Bad in der begeisterten Menge.

Bol'vars Epigone hat Sinn für Symbolik. Die Feierlichkeiten zur Amtseinführung ließ er um zwei Tage verlegen, um genau am siebten Jahrestag seines ersten öffentlichen Auftritts gewürdigt zu werden: Am 4. Februar 1992 hatte Ch‡vez, damals noch Fallschirmspringer, mit einigen Gefolgsleuten aus den mittleren Rängen des Militärs versucht, den damaligen Präsidenten Carlos Andres Pérez aus dem Amt zu putschen. Der Aufstand scheiterte an der mangelnden Unterstützung hoher Generäle. Doch Ch‡vez prophezeite, er sei nur "por ahora", fürs erste, geschlagen.

Mit denselben Forderungen, die den Putschversuch begleitet hatten, zog er dann im vergangenen Jahr in den Präsidentschaftswahlkampf: Schluß mit der Korruption, Schluß mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik, Schluß mit der Lähmung Venezuelas durch die beiden Traditonsparteien Copei und Acci-n Democr‡tica (AD).

Insbesondere bei der Unterschicht kam Ch‡vez an. Mit populistischen Sprüchen wie dem von den Korrupten, die er "in der Pfanne braten" wolle, schaffte Ch‡vez eine absolute Mehrheit. Schließlich leben 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das Gros der Venezolaner kann sich daher mit dem aus einer armen Lehrerfamilie stammenden Ch‡vez identifizieren.

Und das versucht der neue Präsident mit seinem Underdog-Image für sich zu nutzen. Am Tag seiner Amtseinführung initiierte er ein Referendum, auf dessen Grundlage eine Versammlung zusammentreten soll, um - so die Vorstellung des neuen Staatschefs - eine neue Verfassung für Venezuela auszuarbeiten. Und als wenige Tage nach der Bekanntgabe des per Präsidialdekret angeordneten Referendums die AD den Obersten Gerichtshof Venezuelas anrief, weil sie die Rechtmäßigkeit des Dekrets bezweifelte, erging sich Ch‡vez sogleich in wüsten Drohungen: Wenn der Oberste Gerichtshof den Prozeß nicht stoppe, tobte der Präsident, würde er "mit dem Volk auf die Straße" gehen. Der Consejo Nacional Electoral (CNE), der nationale Wahlrat des Landes, legte dennoch in der vergangenen Woche den Termin für die geplante Volksbefragung auf den 25. April fest.

Die verfassunggebende Versammlung ist eines der umstrittensten Projekte, die Ch‡vez auf den Weg bringen will. Zwar soll nach einem Bericht der Washington Post von der 1961 verabschiedeten Verfassung, "in der linke Gruppierungen ausgeschlossen werden, zu einer breiteren Basis" übergegangen werden. Aber nicht nur das: Auch die Rechte des Präsidenten sollen erweitert werden. Denn für einen autoritären Führungsstil mittels Sondervollmachten und Präsidialdekrete scheint sich "das Chamäleon" - wie der Präsident genannt wird - begeistern zu können. Vor dem Parlament beantragte Ch‡vez vergangene Woche Sondervollmachten zur Sanierung der Staatsfinanzen. Dieser Vorstoß provozierte Menschenrechtsgruppen und die Oppositionsparteien AD und Copei, die ihre schon im Wahlkampf geäußerten Warnungen vor einer drohenden Diktatur unter Ch‡vez wiederholten.

Aber Ch‡vez irritierte auch die Vertreter der traditionellen politischen Klasse Venezuelas. Durch die von ihm angekündigte Justizreform muß sie ein entschiedeneres Vorgehen gegen Korruption befürchten. Und sein Vorhaben, Senat und Kongreß, die beiden Kammern des Parlaments, zu einer zusammenzulegen, könnte die Karriere einiger Mandatsträger jäh beenden.

Auf anderen Gebieten gibt sich Ch‡vez nach seinem Amtsantritt moderater. So ist von seinen offensiven Reden gegen den freien Markt nichts mehr zu hören, und von der angekündigten Verstaatlichung des Telekommunikationssektors ist der Präsident wieder abgerückt. Dafür sollen aber die Bankgeschäfte künftig besteuert werden.

Will Ch‡vez nicht die großen Erwartungen der armen Bevölkerung, und damit seine Wähler, enttäuschen, muß er schließlich nicht nur den Saubermann gegen Filz im Parlament und in der Verwaltung spielen, sondern sich auch als "sozial gerecht" verkaufen und den Lebensstandard verbessern. Seit seiner Wahl am 6. Dezember letzten Jahres ist er deshalb ständig im Ausland unterwegs, um bei Investoren und Regierungen für Venezuela zu werben.

Ch‡vez' Vermittlung im kolumbianischen Friedensprozeß als Moderator zwischen dem konservativen Präsidenten Andrés Pastrana und der Guerilla, seine engen Kontakte zum kubanischen Staatschef Fidel Castro und seine gleichzeitigen Bemühungen um eine Beteiligung Venezuelas am Wirtschaftsbund Mercosur, zeugen von dem Wunsch, sich als Vorkämpfer für eine engere Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Staaten zu etablieren.