»Es muß Druck geben«

Annelie Buntenbach, Bundestagsabgeordnete der Grünen, über Lafontaines Rücktritt

Steht Gerhard Schröder nach Oskar Lafontaines Rückzug aus der Politik jetzt noch mehr in der Kontinuität der abgewählten Regierung?

Ich fürchte ja. Hier ist eine eindeutige Richtungsentscheidung gefallen. In der SPD waren ja immer unterschiedliche Richtungen vorhanden. Gerhard Schröder, Bodo Hombach und Wirtschaftsminister Werner Müller auf der einen und Oskar Lafontaine auf der anderen Seite.

Was heißt das für Rot-Grün?

Lafontaines Rücktritt bedeutet eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Wirtschaft. Erste Äußerungen aus dem Regierungslager lassen sich dahingehend deuten, daß zukünftig Unternehmerinteressen stärker berücksichtigt werden. Das zeigt sich auch daran, daß kurz nach dem Rücktritt die Aktienkurse hochgeschnellt sind. Die Erwartungshaltung der Wirtschaft ist jetzt, daß es zu Korrekturen der Steuerreform kommt. Das wäre ein Signal in die falsche Richtung. Die angebotsorientierte Politik, die davon ausgeht, daß die Entlastung der Unternehmer im nächsten Schritt zu neuen Investitionen und dann zu mehr Arbeitsplätzen führt, ist gescheitert. Auch wenn ich nicht alle Ansichten von Lafontaine teile, so hat er doch erkannt, daß ein Politikwechsel bedeutet, weg von dieser Angebotsorientierung hin zu mehr Nachfrageorientierung. Ich fürchte, daß ein solcher Wechsel ohne Lafontaine viel schwieriger sein wird als es mit ihm der Fall gewesen wäre.

Also Wahlbetrug?

Nicht so, wie es die Medien in den letzten Tagen interpretierten. Der Umverteilungslogik, die in den vergangenen 16 Jahren von unten nach oben stattgefunden hat, wurde mit der Wahlentscheidung vom 27. September 1998 eine Absage erteilt. Beugt sich die rot-grüne Regierung jetzt wieder den Unternehmerinteressen, würde das die Politikverdrossenheit der Menschen verstärken.

Wenn wir "linke Politik" mal mit Politik im Sinne einer umfassenden sozialen Gerechtigkeit übersetzen, ist für eine solche Politik überhaupt noch Platz?

Das kommt ganz darauf an, wie sich die Kräfte, die für eine solche Politik stehen, zu Wort melden. Es gibt genügend Menschen, die von der Notwendigkeit einer Umverteilung von oben nach unten überzeugt sind. Ob dann am Ende linke Politik zum Tragen kommt, wird auch davon abhängen, wie sich zum Beispiel Gewerkschaften und andere soziale Initiativen einmischen. Umgekehrt hat es ja geklappt: Die Unternehmerverbände haben Krach geschlagen, und das hat den Kanzler offensichtlich sehr beeindruckt. Jetzt wäre es an der Zeit, daß die Gegenkräfte den Kanzler mit ihren Zielen für eine soziale Politik beeindrucken. Ohne öffentliche Präsenz, bei der beispielsweise Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung eingefordert wird, kann es keine solidarische Politik geben. Da muß Druck gemacht werden.

Am Tage des Lafontaine-Rücktritts titelte die Bild-Zeitung: "Schröder droht mit Rücktritt". Ist das Springer-Blatt zum halbamtlichen Regierungsorgan mutiert? Immerhin kommt der stellvertretende Regierungssprecher Bela Anda von Bild?

Die Wege der Springer-Presse sind manchmal unergründlich. Im Ernst: Den Eindruck, daß es zwischen der Bild-Schlagzeile und dem Rücktritt ein Zusammenhang gibt, kann man kaum von der Hand weisen. Wobei wahrnehmbare Zusammenhänge nicht immer eindeutig beweisbar sind. Aber eines ist augenscheinlich: Schröder praktiziert eine Art große Koalition über die Öffentlichkeit: Sei es die Steuerreform, der Atomausstieg oder die doppelte Staatsbürgerschaft - wenn Schröder Gegenwind spürt, steuert er um. Das vermittelt schon den Eindruck: Je lauter die eigene Forderung formuliert wird, desto eher wird man von Schröder gehört. Bei dieser Art von Lobbyarbeit spielen leider Koalitionsverträge irgendwann keine Rolle mehr.

Wer den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern etwas geben will, muß es bei den Unternehmern holen. Teile Ihrer Partei gehen diesem Streit aus dem Weg.

Ich bin schon der Meinung, daß wir diesen Grundsatzstreit brauchen - in der Gesellschaft, in der SPD und auch in meiner Partei. Wenn die Schere zwischen arm und reich nicht weiter auseinandergehen soll, dann muß man sich über die politischen Linien streiten. Als Gewerkschafterin weiß ich das nur zu gut: Wenn etwas erreicht werden soll, muß man sich mit dem Kapital anlegen. Die Frage nach mehr Profit löst offensichtlich nicht die Frage nach mehr Arbeitsplätzen oder die Frage nach gerechterer Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum.