Stanley Kubrick ist tot

Wo steckt er?

Statt eines Nachrufs wollen wir einen Hervorruf wagen. Schon gut, er ist tot, aber "2001 - Odyssee im Weltraum" endete 1968 mit einer Wiedergeburt. Das ist zwar unlogisch, aber deswegen lieben alle, die den Film kennen, den im Alter von 70 Jahren Verstorbenen. Weil es nicht um ein Drama gegangen war, sondern darum, daß man mit all seinen Ecken und Enden und Fasern mit seinem Film verbunden war, um einmal auszusprechen, was die Kunst war - seine Kunst -, die, die definitive Kontextualisierung seines Films dem Rezipienten zu überlassen.

Das war eine schöne Überraschung für den Zuschauer gewesen, zu registrieren, wie er emotional eingebunden wurde, wenn's doch nur um den durchgeknallten Dr. Seltsam gegangen war, der es gelernt hatte, die Atombombe zu lieben. "Clockwork Orange" wurde ebenso zum polymorph-perversen Pop-Event wie der Vietnam-Kriegs-Rap "Full Metal Jacket" ("Vietnam ist für uns der Ersatz für eine glückliche Kindheit", hatte sein Ko-Autor bekannt).

Kubricks Filme verfolgen keine klare Linie, gerade deswegen docken sie im tiefsten Innern des Zuschauers an; sie sind ganz Bild, Film statt lineare Erzählung, und sie können mühelos die Hüllen durchstoßen, mit denen der amerikanische Urmythos sich sonst erfolgreich schützt.

Seine "Lolita" ist eine prima Satire über ein Amerika, das die Unberührbarkeit und Verherrlichung der Mädels sich zur hysterischen Pflicht gemacht hat. Was ist, wenn die Gewalt von einer Zwölfjährigen ausgeht? Das ist eine unerlaubte Frage, denn der amerkanische Paternalist, und sei es der eingereiste polymorph-perverse Humbert-Humbert, ist stets auf der Suche nach dem Kind in der Frau, egal, wie alt. Das Kindliche am femininen Amerika sichert die Herrschaft des patriarchalen Mannes, die von der Frau, die sich nicht in die Rolle schickt, Kind zu sein, bedroht wird. Also wird das Kindliche der amerikanischen Männergesellschaft heuchlerisch oder instinktiv kultiviert und gepriesen - nicht von Kubrick, der in "Lolita" den Feiertagsstaat herunterriß und die Männer ziemlich nackt aussehen ließ, in der berühmten Schlußsequenz.

Inzwischen gibt es einen anderen "Lolita"-Film. Vergessen wir den. Wo aber steckt Kubrick? Darauf gibt es drei Antworten.

1. ist seine "Lolita" 37 Jahre nach dem Produktionsjahr wieder präsent. Warner Home Video hat im vorigen Jahr die Kaufkassette herausgebracht. Mit Kubrick lassen sich auch nach seinem Tod Geschäfte machen, und zwar zum Einzelhandelspreis von

29, 95 Mark, vertrieben über die Zeitschrift Cinema, was wir schreiben, ohne einen Pfennig dafür zu bekommen, alles, weil zu raten ist, Kubricks "Lolita" 37 Jahre später neu anzusehen.

2. können wir Kubrick mit ein wenig Magie in den magischen Kleinstadtorten Lumberton und Twin Peaks aufspüren. Dort wären auch Lolita und Humbert-Humbert am Platze. Kein Wunder, daß Lynch Kubricks "Lolita" zu seinem Lieblingsfilm erklärt hat.

3. werden wir ab 30. September 1999 Kubricks letzten Film sehen können, den er nach Angaben von Warner Bros. vor seinem Tod fertiggestellt habe. Um einen director's cut wird es sich freilich nicht handeln. "Eyes Wide Shut" ist die Übersetzung der "Traumnovelle", Arthur Schnitzlers ("Liebelei") Erzählung von 1926. In den Hauptrollen sollen Tom Cruise und Nicole Kidman brillieren, versprechen uns die Warner-Brüder. - Das Geld für die beiden Eintrittskarten läßt sich jedoch schon jetzt anlegen: für das Buch "David Lynch und seine Filme" von Georg Seeßlen, denn, das ist gewiß, da steckt er drin, Stanley Kubrick.