Neue deutsche Außenpolitik

Bonn autonom

Die USA ist heute der einzig ernst zu nehmende Konkurrent Deutschlands. Großbritannien und Frankreich kommen als Zentralmächte nicht mehr in Frage. Zwar verfügen beide über ein nach wie vor ansehnliches Militärpotential, aber dieses ist der wirtschaftlichen Schlagkraft weit voraus. In beiden Ländern ist seit Jahren ein lautes Murren gegen die Bevormundung duch die USA zu vernehmen - und neuerdings auch gegen die durch Deutschland.

1992 gelang es der Bonner Regierung, die EU-Staaten zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens und damit zur Unterstützung der Zerstörung Jugoslawiens zu zwingen. Dieser gegen die Interessen Frankreichs und Großbritanniens erpreßte Konsens demonstrierte erstmals, welchen Preis die Westeuropäer für den Frieden mit Deutschland künftig zu entrichten haben.

Das deutsche Hauptinteresse im aktuellen Krieg scheint sich - glaubt man den Kommentatoren - ohne eigenes Zutun zu verwirklichen. Stellvertretend für viele gab die FAZ letzte Woche bekannt, daß die völkische Parzellierung Europas vor einem weiteren Erfolg steht: "Der Westen kann den Überlebenden der Massaker dieser Tage einen Verbleib im jugoslawischen Staatsverband nicht abfordern, ohne seine Glaubwürdigkeit als demokratische Wertegemeinschaft zu verlieren. Das aber bedeutet, daß er sich nicht länger der Frage entziehen kann, wie die territoriale Ordnung des Balkans künftig aussehen sollte."

Das kann man auch als selbstbewußte Note an Washington lesen, zumal die Amerikaner sich womöglich in eine Situation manövriert haben, die eine Herauslösung des Kosovo aus Jugoslawien als einzigen Ausweg erscheinen läßt: eine Option, die die USA nie wollten. Wo Deutschland auf territoriale Destabilisierung und "Volksgruppen"-Politik setzt, hatten die Amerikaner das Gegenteil im Sinn: den möglichst weitgehenden Erhalt jener Staatenkulisse, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Erfolg der USA mit ermöglicht hat.

Dazu paßt, daß Kanzler Schröder und Außenminister Fischer unentwegt - und im Gegensatz zur US-Politik - betonten, Rußland bleibe bei der Lösung der Jugoslawien-Krise im Spiel. Auch in der Frage des Verbleibs und der Versorgung der Kosovo-Flüchtlinge hat Bonn die alleinige Initiative übernommen. Die besagt vor allem, daß das Elend in Albanien und Mazedonien stationiert werden soll. Eine Lösung, die ebenfalls der Stabilität in der Region nicht unbedingt zuträglich ist.

Daß die rot-grüne Regierung während der letzten Wochen den Reiz einer wuchtigen Außenpolitik erkannt hat, zeigt nicht zuletzt eine Ankündigung Scharpings vom vergangenen Freitag. War zuvor unentwegt die Rede davon, die Attacke auf Jugoslawien werde ein absoluter Ausnahmefall bleiben, stellte der Verteidigungsminister einen personellen Ausbau der bisher 50 000 Mann umfassenden Bundeswehr-"Krisenreaktionskräfte" in Aussicht. Die Schlagkraft der Truppe müsse "den neuen Herausforderungen angepaßt" werden.

Solche Äußerungen kontrastieren ungewollt das weit verbreitete kokette Understatement, Deutschland sei eine eher unbedeutende "Mittelmacht" (FAZ): "Die Deutschen", schrieb Rudolf Augstein letzte Woche im Spiegel zum angeblich allein von den USA befürworteten "völkerrechtswidrigen Überfall" auf Jugoslawien, "die Deutschen haben wachsweich reagiert. Sie stecken ja noch immer im Zweiten Weltkrieg. Zu sagen haben sie nichts."

Nichts? Dafür gewinnen sie zu häufig, auch an Erfahrung über die ideelle Ausstattung einer Großmacht. Die FAZ am vergangenen Samstag: "Der Krieg in Jugoslawien bewirkt einen Paradigmenwechsel in der deutschen Innenpolitik. Das widerfährt einer Kohorte von Parteipolitikern, die sich zwar internationalistisch gerierte, bestenfalls aber im nationalen Rahmen dachte. Die Lektion, das Schicksal eines Landes entscheide sich in der Außenpolitik und nicht (beispielsweise) in der Rechts- oder Sozialpolitik, hat sie in einem Schnellkurs zu lernen - oder sie scheitert vollends. Detaildebatten über ein neues Staatsbürgerschaftsrecht, über 630-Mark-Jobs, selbst über die Kernenergiepolitik werden relativiert." Es sei denn, man bräuchte demnächst noch nukleare Gefechtsmittel.