Ästhetik des Widerstandes

Mit der Kriegsfähigkeit entdeckt Deutschland den Antifaschismus neu.

Strenge Frage der Woche: "Soll die Berliner Republik als Republik des Krieges beginnen?" Entspannte Antwort der Zeit: "Wie die Bundesrepublik im Moment dieses Neuen reagiert, das bestätigt durchaus ein Bild von Zivilität. So ist sie geworden, nicht zuletzt im Streit um Wiederbewaffnung, Wehrmacht, Bundeswehr und Friedensbewegung. Das gehört zusammen." Ja, und es fügt sich zum Absurden: Die wieder- und nicht schlecht bewaffnete Bundeswehr betreibt Wiedergutmachung an den ehemaligen Einsatzorten der Wehrmacht, kommandiert wird sie von Leuten, die schon in der Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre gegen amerikanische Pershing II-Raketen und den "atomaren Holocaust" kämpften.

Im Zentrum dieser Bewegung, zu der auch Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Rudolf Scharping gehörten, stand eine von gewaltfreier Verzweiflung geprägte Sagt-Nein-Rhetorik, die sich in "phantasievollen Aktionen" immer wieder selbst bestätigte. Beliebt war hier insbesondere die Simulation von nuklear verursachtem "Massensterben", zu denen sich die potentiellen Opfer mit selbstgebastelten Särgen in den Straßen und Parks westdeutscher Großstädte versammelten. Man stand herum, rauchte vielleicht, verspeiste ein Döner und wartete auf das Signal. Sobald der Sirenenton ertönte, griff man nach der Hand des Nachbarn und legte sich zum Sterben in die Sonne. Oder in den Regen.

Diese Art des Widerstandes kam, im Gegensatz zu den "Schwarzen Blocks" der Autonomen, überall gut an: Politisch denunzierte sie die mögliche Monströsität ausländischer Verbrechen gegen Deutsche, ihre "TrägerInnen" spielten die selbstgewählte Opferrolle mit großer Hingabe. In den Attacken auf die vermeintlichen Strategen atomarer "Vernichtung" wurde die sozialhistorische und geographische Verortung des nationalsozialistischen Judenmordes erstmals durch eine zahlenmäßig starke und bis weit ins Zentrum der Gesellschaft reichende Bewegung aufgehoben. Die Nazi-Verbrechen wurden danach beliebig nutzbar, eine Diffusion, die im damals entstandenen und heute trotz aller satirischen Einwürfe etablierten Begriff der "Menschenverachtung" zusammengezogen ist.

Gleichzeitig entstand in diesem Milieu jene spezielle Variante von Glaubwürdigkeit, mit der Fischer, Scharping und Schröder heute Widerstand gegen Milosevic leisten. "Der Kanzler, sein Außenminister und der Chef auf der Hardthöhe", so die Zeit, "vermeiden zum Glück die pathetischen wie die patriotischen Worte." Bild erschien nach Beginn des Krieges gegen Jugoslawien mit der Headline: "Die Last des Krieges. Schauen sie in ihre Gesichter." Im Text hieß es: "Der Kanzler schläft nur noch vier Stunden die Nacht. Das Gesicht von Außenminister Fischer tief zerfurcht und ausgezehrt. Und Verteidigungsminister Scharping raucht seit Tagen wieder Kette. Tonnenschwer lastet auf allen die Verantwortung. Qualvolle Stunden für unsere Politiker."

Kein Kommentar, in dem der Hinweis fehlt, die drei seien nun vom Ernst des Lebens eingeholt worden. Fischer hat seine Hochzeit verschoben. "Vorbei die Zeit des Spaß-Kabinetts und des Kaschmir-Kanzlers", so die Woche, "ein neuer Ernst (ist) in die deutsche Politik eingezogen." Ähnlich die Zeit: "Es dominiert die Rhetorik der neuen Verantwortung. Den letzten politisch Korrekten, die an das 'Nie wieder' erinnern, hat es Martin Walser in der Paulskirche tüchtig gezeigt. (...) Ja, im Augenblick findet Rot-Grün den richtigen Ton. Das kann viele Fehler wettmachen. Gerade trudelt die Nachricht ein, Gerhard Schröder werde am 20. Juli bei einem öffentlichen Rekrutengelöbnis sprechen. Warum nicht?"

Der Bendler-Block als Symbol des deutschen Widerstandes gegen Milosevic. Er habe neben "Nie wieder Krieg" auch "Nie wieder Auschwitz" gelernt, sagte Außenminister Fischer letzte Woche. Er habe in den Diskussionen mit der älteren Generation immer wieder gefragt: "Warum habt ihr damals nicht mehr gegen Hitler getan?" Wenn sich jetzt in Jugoslawien Anzeichen eines neuen Faschismus zeigten, müsse energisch dagegen vorgegangen werden. Die ethnische Kriegsführung, die Grenzziehung aufgrund ethnischer Kriterien seien typische Anzeichen für Rassismus. "Das Argument, deutsche Soldaten dürften wegen der Vergangenheit nie wieder dabeisein, könne man auch umdrehen. Sie müßten dabeisein, deswegen" - so faßt die Zeit Schröders Position zusammen.

Scharping ist ein Sonderfall. Allerorten werden ihm hervorragende Zeugnisse in Sachen Kriegsmanagement ausgestellt, der stern hat seine aktuelle Homestory über den Verteidigungsminister "Der Frontmann" genannt. "Es ist Samstag, und es ist Krieg. Und Rudolf Scharping ist ein zufriedener Mann. Denn endlich ist er in einem Leben angekommen, das auf ihn gewartet hat." Dieses besteht im Kommando über eine Truppe, die - anders als eine Partei - auf ihn hören muß. Ein sprechender Roboter ohne Notabschaltung, dem man kürzlich die Vokabeln "Völkermord", "Selektion", "Konzentrationslager" und "Ausrottung" beigebracht hat und der seine neuen Fähigkeiten nun unentwegt ausprobieren möchte.

Obwohl laut Spiegel "Scharping und das Kanzleramt" schon während der Ostertage "die dringende Beschaffung" von Belegen für die Existenz von serbischen Konzentrationslagern "angeordnet" hatten, wurde bisher niemand fündig. Dafür aber wiederholte Scharping kryptisch, unablässig und unter Berufung auf Quellen, die nicht einmal von informationshungrigen deutschen TV-Sendern akzeptiert wurden, im Kosovo geschähen Dinge, die das Vorstellungsvermögen der Öffentlichkeit überträfen. Milosevic, so Scharping in bewußtem Gegensatz zu den offiziell geltenden Nato-Kriegszielen, gehöre "nach Den Haag vor ein Kriegsverbrechertribunal und nicht an einen Verhandlungstisch".

Bei dem schrägen Mix aus geschichtsbewußten Widerstandsgesten, humanitärer Entschlossenheit und eingestreuten Selbstzweifeln handelt es sich um die durch und durch ästhetische Inszenierung einer ungern übernommenen moralischen Verantwortung. Die grauen Gesichter und die Faschismus-Rhetorik sind geschickt drapierte Insignien für die Situation der Ausweglosigkeit, die noch jedesmal den Gebrauch der "letzten Mittel" (Fischer u.a.) ankündigen.

Es ist gerade der von Linksliberalen mit Genugtuung begrüßte und als Fortschritt bezeichnete Wegfall des traditionellen patriotischen Kriegs-Klimbims, der die Deutschen heute zu einer Schicksalsgemeinschaft im Widerstand macht. Günter Gaus hat im Freitag zu Recht gefragt, ob der Einsatz der Bundeswehr demnächst als "tätige Reue" durchgeht, und hinzugefügt, worauf angesichts der rotgrünen Bewußlosigkeit heute nur noch folgenlos beharrt werden kann: "Auschwitz entzieht sich jeder Relativierung; ich bin es müde, dem, der das nicht begriffen hat, es zu erklären."

Dennoch kommt das Stück - ganz im Sinne der Befürchtungen Günter Gaus' - an; selten ist soviel Verständnis für die kollektive Psyche einer von Argumentationsnot bedrängten Truppe geäußert worden. Die Woche: "Auf dem Balkan kämpfen sie ihn noch einmal, den Kampf gegen das Menschheitsverbrechen der Deutschen im 20. Jahrhundert." Die Zeit: Schröder, Fischer und Scharping seien "aufgewachsen ohne Krieg, im Rahmen der eigenen, recht friedfertigen kleinen Welt, oft getragen von der Überzeugung, daß die Eltern oder Großeltern einen fatalen Sonderweg einschlugen, daß aus der deutschen Vergangenheit also eine moralische Pflicht resultiert. Nie wieder! Auch eine Neigung zum Übermoralisieren entstand daraus, das ist schon richtig."

Selbst die FAZ, ansonsten dem Antifaschismus eher abgeneigt, macht begeistert Gebrauch vom Recht auf abweichende Meinung: "Fischer hat, als Vertreter einer Generation, die am Verhalten der Eltern im Dritten Reich (ver-)

zweifelte, über dem Satz 'Nie wieder Krieg' einen zweiten Satz nicht vergessen, der zu Protestzeiten genauso laut gerufen wurde: 'Nie wieder Auschwitz.' Den zweiten Satz nimmt er so ernst wie den ersten. Das festigt seine Position und gibt ihr moralisches Fundament." Damit könnte die von Fischer angeregte Konferenz zur Neuordnung des Balkan neuerlich zum Triumph einer Anti-Hitler-Koalition werden. Diesmal mit Deutschland: Zum erstenmal, so der Außenminister, stehe sein Land "in diesem Jahrhundert auf der richtigen Seite".

Zur antifaschistischen Volksfront gehören natürlich auch die kleinen Leute. Die wissen zwar in der Regel nicht, was in Jugoslawien und im Kosovo los ist, meinen aber trotzdem, man müsse so einem wie Milosevic das Handwerk legen. Die Gewerkschaften, von jeher dem Antifaschismus verpflichtet, haben Schröder ihre Unterstützung zugesagt. Aktiv wird der Normalbürger allerdings eher in der Abteilung humanitäre Intervention. Vom Überschwang angefeuert, mit dem die Boulevardpresse ankommende Kosovo-Flüchtlinge begrüßt, kramen deutsche Rentner in der Gartenlaube und bringen ausgesondertes Mobiliar und alte Unterwäsche als "Spenden" in die Flüchtlingsunterkünfte. Vor den Heimen versammeln sich Anwohner und klatschen Beifall, sobald ein Bus mit Vertriebenen in Sicht kommt. Menschenmaterial, das neben dem guten Gewissen auch das Einvernehmen zwischen Politik und Bürgern befördert.

Schließlich aber ist auch der offenherzige Empfang für die Milosevic-Opfer ein Beitrag zum Antifaschismus: Am Sonntag früh gegen eins berichtete ein ZDF-Reporter aus einem deutschen Flüchtlingszentrum. Wichtig sei, den Ankömmlingen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Denn: "Die quälende Ungewißheit ist Teil der serbischen Kriegsführung." Eine Wunderwaffe?