Anti-James-Bond in Indien

Bewußte Irreführung und sprachliche Eskapaden: Marcus Brauns sophistischer Roman "Delhi"

Man hat eine Stoppuhr und ein Thermometer zur Verfügung. Wie bestimmt man die Höhe des Raumes? Antwort: Man läßt das Thermometer von der Decke auf den Boden fallen und stoppt die Zeit. Weil alle Dinge gleich schnell fallen, kann man daraus die Raumhöhe errechnen. Das ist das typische Wissen, mit dem Nerds ihre Umgebung zu terrorisieren pflegen.

Um Nerd-Wissen auch für die in der Überzahl befindlichen Nicht-Nerds interessant zu machen, wird es in Erzählungen nicht selten nach Ägypten, Mesopotamien oder Indien ausgelagert und mit allerlei sagenhafter Mystik und Exotik angereichert, die den einzigen Zweck verfolgen, unfreiwillige Zuhörer bei der Stange zu halten.

Es ist dieselbe Form schmieriger Exotik, die auch in Pornoproduktionen vornehmlich der achtziger Jahre zumeist vergeblich bemüht wird, um dem ansonsten profanen Geschehen so etwas wie Tiefgang und allegorische Bedeutung zu implantieren. Nicht von ungefähr müssen in jeder James Bond-Produktionen wenigstens ein paar jener wildromantischen Locations auftauchen, auf deren einschlägige Symbolik sich Reiseführer immer schon im Vorfeld verständigt haben.

Nach ähnlichem Schema verfährt auch Marcus Brauns Debütroman "Delhi", mit dem feinen Unterschied, daß der Autor sich dieser Mechanismen vollständig bewußt ist und so auf der nächsthöheren Ebene sein Spiel mit ihnen treiben kann. Das Buch ist durchsetzt mit Nerdwissen, Rätseln, Schachaufgaben etcetera. Es spielt in einem Pappmaché-Indien, das mit gängigen Klischees vollgestellt ist: Elend und Armut, Mystik und Spiritualismus, Erotik und Verbrechen.

Der Plot erinnert anfänglich an eine genretypischen Agententhriller: Der frisch diplomierte Architekt Goester gerät in Delhi in ein Komplott, dessen Ziel die Ermordung eines fanatischen indischen Politikers zu sein scheint. So langweilig das alles klingt, bildet es glücklicherweise nur die Folie für etwas ganz anderes: einen literarischen Trip der dritten Art, einen rätselhaft idyllischen Alptraum, der sich aus dem blubbernden Sumpf der Klischees erhebt.

Der sympathisch derangierte Anti-James Bond Goesters hat ohnehin schon genug mit dem Kulturschock zu kämpfen und deliriert sich so zusätzlich durch ein unlogisches Gestrüpp aus Konspirationen, an denen er so unfreiwillig teilnimmt. Überall lauern semiotische, erotische und alkoholische Anfeindungen, die ihn aus der Bahn zu werfen drohen, was gegen Ende auch vollständig gelingt.

Begleitet wird er von einem gnadenlosen Erzähler, dem wir nur so weit trauen dürfen, wie wir eine Motorrikscha werfen können. Alles verdichtet sich zu einem fiebrigen, paranoiden Stream of Consciousness, falls von Bewußtsein hier noch die Rede sein kann. Goester will alles ganz genau wissen und kapiert überhaupt nichts. Anstatt sich ins europäisch-dekadente Goa aufzumachen, das bald nur noch ein utopischer Fluchtpunkt ist, bleibt Goester im orientalisch-dekadenten Delhi stecken, eckt er an jeder Hauswand an und bekommt am Ende die Quittung; mit aufgeschlitztem Bauch liegt er am Strand. Womöglich hätte er auf den alten Sikh hören sollen, der ihm riet: "Unsere Wahrheiten sind nur Entscheidungen zu einem praktischen Zweck. Wir leben auf einem Nagelbrett, jede einzelne Tatsache ist in der Lage, uns zu durchbohren, zu töten, wenn wir aber nicht zu genau hinsehen, dann geht's, dann tragen uns die Tatsachen."

Wer das indes für eine tiefere Wahrheit hält oder gar etwas daraus lernen möchte, der hat das Buch nicht verstanden. Marcus Brauns "Delhi" lebt weder vom Plot noch vom Ambiente, sondern von der Irreführung und den sprachlichen Eskapaden. Es ist literarischer Sophismus in Reinform und läßt nur sehr bedingt Rückschlüsse auf irgendeine Realität zu. Darin gibt es jedoch Momente von perfekter Idylle, wenn das logische Sprachspiel und die weit hergeholte Metapher sich mit dem decken, was für Realität zu halten wir uns angewöhnt haben. Etwa wenn ein Käuzchen ein Kind nachahmt, "das ein Käuzchen nachahmt", oder wenn auf einem Hund "Fliegen und wanzenartige Blutsauger" sitzen, "den Sternenhimmel nachäffend".

Als Marcus Braun 1997 als einer der ersten mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet wurde, kannten den Autor nur die wenigen, die seine Erzählungen aus dem kleinen Dreieck-Verlag gelesen hatte. Jetzt wird ein breites Berlin Verlag-Publikum das Buch nicht verstehen und für Reiseliteratur halten. Das ist so, als ob man nur mit einem Thermometer und einer Stoppuhr die Fallhöhe von Literatur ermitteln wollte.

Marcus Braun: Delhi. Berlin Verlag, Berlin 1999, 173 S., DM 29,80