Alternative Lebensformen

Das Kiez-Grätzl

"Wos is?" hob meine Begleiterin Karin zu der alles entscheidenden Frage an, "gemma heut' Abend am Kiez?" Sie hatte mich kalt erwischt. Mitten im Ostergedränge am Ku'damm. Ausgerechnet. Wußte sie, daß ich keinen blassen Schimmer hatte, was "Kiez" bedeutet? Entströmte mir ein übelriechender Duft, der das verriet? Oder hat es ihr gar wer gesteckt?

Während sich also meine Gedärme ob der Lösung dieses Problems vollends verknoteten, blieb ich nach außen hin völlig cool und spielte ihr den Ball zurück: "Wieso? Wir san doch eh scho do!" Betretenes Schweigen. Keiner von uns beiden traute sich, das Thema erneut aufzurollen, obwohl die Frage "Waaßt du eigentlich, wos 'Kiez' haaßt?" in der Luft lag. So verging Stunde um Stunde, und die Ungewißheit wuchs im selben Maße wie das Verlangen nach Aufklärung.

Was sollten wir tun? Zwei Wiener mitten in Berlin. Wir konnten uns unmöglich die Blöße geben, einen Einheimischen nach dem Weg zum Kiez zu fragen. Denn - und das vermuteten wir schon länger - der Kiez ist ja schließlich weder ein furchtbar angesagter Stadtteil noch irgendeine beliebte Absteige, in der Touristen nichts zu suchen hätten. Oder doch? Egal.

Glücklicherweise brachten uns weitere seltsame Begebenheiten in der Stadt an der Spree (oder Havel, oder was jetzt?) auf andere Gedanken. "Host scho g'hört? Der Schröder hat in GZSZ mitg'spielt", stellte ich meine Kenntnisse über deutsches Qualitätsfernsehen unter Beweis. Die Frage "Wer is des?" hätte ich darauf zwar am wenigsten erwartet, war aber gerne bereit, Karins Wissenslücke zu schließen. "Schröder. Gerhard. Bundeskanzler. Olles kloa?" erwiderte ich zuvorkommend. Da ich merkte, daß ihr Gemütszustand einer Mischung aus ang'fressn und peinlich berührt glich, leitete ich gekonnt zu dem Hitlerbärtchen über, den sie dem Nachfolger vom "Bladen" auf dem Transparent bei der Friedensdemo malten. "Echt?" - Karin war schockiert und somit abgelenkt. Der Tag schien gleichermaßen gerettet wie vorüber.

Kurz bevor die Sonne unterging, setzten wir uns noch einmal in die Scheiße, als wir bei einem Seiterl die Forderung der PDS nach Rechtssicherheit für Taxler in Grenzregionen erläuterten. "Also een Umjangston habt ihr Östreicher", meinte der Kellner zwar scherzhaft, aber sichtlich betroffen. "Taxler. Taxifahrer. Ist doch net schlimm, oder?" versuchte ich mich als Friedensstifter. Mit mäßigem Erfolg. Trinkgeld bekam er trotz seines verständnislosen Kopfschüttelns. Wir sind ja schließlich keine Unmenschen.

Übrigens: Das "Kiez"-Drama erlebte ein völlig unerwartetes Happy-End. Um Viertelvier in der Früh. Und zwar in Kreuzberg, in der Wiener Straße (!). Dort weihten mich mitfühlende Berliner ein. "Grätzl! Bei uns heißt das Grätzl!" johlte ich vor Glück. Auch Karin war ob dieser Erkenntnis voll der Freude. Die Sache mit Herbert Schröder machte ihr dennoch zu schaffen.