Kabylei und Liebe

Was hält die männliche Herrschaft aufrecht? Pierre Bourdieu kritisiert die Patriarchatskritik

Für viele überraschend hat sich Pierre Bourdieu mit seinem bisher nur in französischer Sprache erschienenen Buch "La Domination masculine" der Patriarchatskritik zugewandt. Bourdieu, der in der Öffentlichkeit vor allem in seiner Funktion als prominenter und entschiedener Kritiker des Neoliberalismus wahrgenommen wird, fragt nun nach der Stabilität des Geschlechterverhältnisses: Wie kann sich, trotz gewandelter sozialer Verhältnisse, die männliche Herrschaft weiterhin behaupten?

Der Text erweckt den Eindruck, Bourdieu mache sich auf dem Feld der Geschlechterforschung zum Platzhirsch, verzichtet er doch fast völlig darauf, an die Arbeiten feministischer Theoretikerinnen und an die von ihnen initiierten Debatten anzuknüpfen. Statt dessen bewegt sich Bourdieu in dem von ihm errichteten Theoriegebäude und greift auf seine früheren Forschungen zurück.

Während die feministische Bewegung lange Zeit die Bedeutung der Vorgänge innerhalb von Partnerschaft und Familie betont hat, macht Bourdieu insbesondere Institutionen wie Kirche, Schule und Staat für die Reproduktion des Geschlechterverhältnisses verantwortlich, denn hier, so Bourdieu, werden die Herrschaftsprinzipien ausgearbeitet und implementiert. Deshalb sei es unzureichend, das Private als den Stützpunkt patriarchaler Macht anzusehen und die Kritik darauf zu konzentrieren.

Bourdieu regt dagegen an, die feministische Bewegung solle nicht nur die Institutionen kritisch untersuchen, sondern sich zudem in eine gemeinsame soziale Bewegung zur Abschaffung aller Herrschaftsverhältnisse einreihen. Dabei bleibt allerdings offen, ob sich die Interessen der AkteurInnen verschiedener vorhandener Bewegungen derart zur Deckung bringen lassen.

Auch wenn der Titel dies vielleicht erwarten läßt: "La Domination masculine" ist keine klassische Partriarchatskritik, sondern versteht sich - umfassender - als Kritik der androzentrischen Gesellschaft, an der Männer wie Frauen partizipieren. So bemüht sich Bourdieu, den Beitrag der Frauen an der Reproduktion männlicher Dominanz herauszustellen. Seine Darstellung, wonach die Herrschaft zwar in objektiven Strukturen begründet ist, diese aber bei Beherrschten und Herrschenden subjektive Dispositionen und Wahrnehmungsstrukturen schaffe, welche wiederum die Verhältnisse reproduzieren, ist zweifellos plausibel, aber keineswegs originell.

"Entgegen der Versuchung", schreibt Bourdieu, "im Namen der Sympathie, der Solidarität oder der moralischen Empörung eine idealisierte Darstellung der Unterdrückten und Stigmatisierten abzugeben und gerade die Wirkungen der Herrschaft, besonders die negativsten, zu verschweigen, muß man das Risiko auf sich nehmen, daß man die herrschende Ordnung zu rechtfertigen scheint und die Eigenschaften herausstellen, durch die die Beherrschten (Frauen, Arbeiter etc.), so wie die Herrschaft sie gemacht hat, zu ihrer eigenen Herrschaft beitragen können."

Die Beherrschten sehen sich selbst mit dem (abfälligen) Blick der Herrschenden. Eben deshalb greife es zu kurz, allein eine Veränderung des Bewußtseins zu fordern; notwendig sei eine "radikale Umkehrung der sozialen Bedingungen, die die Beherrschten dazu bringen, den Blick der Herrschenden zu übernehmen". Genau dieser Zusammenhang, kritisiert Bourdieu, werde von den postmodernen Theoretikern nicht mehr berücksichtigt. Ihnen wirft er pauschal vor, mit einem "Akt performativer Magie" Strukturen beseitigen zu wollen, die auf materialen Gegebenheiten basieren. Das aber sei unmöglich: "(D)enn die Geschlechter, keinesfalls einfache 'Rollen', die man nach Belieben spielen könnte (...), sind in die Körper und in ein Universum eingeschrieben, aus dem sie ihre Macht beziehen." Man kann nicht umhin, auch dieser Kritik jede Originalität abzusprechen, denn die Zahl der Feministinnen, die im Widerspruch zu Judith Butler u.a. darauf bestehen, daß Frauen zwar gemacht werden, es dann aber auch sind, ist mittlerweile Legion.

Sicherlich liegt die Stärke von Bourdieus Ansatz darin, daß er weder rein ökonomisch argumentiert noch die "symbolische Ordnung" idealistisch untersucht, sondern nach ihrer materialen Rückkopplung fragt. In seinem Hauptwerk "Die feinen Unterschiede" zeigt er an so alltäglichen Dingen wie Eßgewohnheiten oder Freizeitgestaltung, in welchem Maße sich die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen im Verhalten und Geschmack des einzelnen widerspiegeln.

Dieses von Bourdieu "Habitus" genannte Konzept umfaßt die Dispositionen, die ein Mensch durch seinen sozialen Status, also wegen seiner besonderen Kombination von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital besitzt. Als "verinnerlichte gesellschaftliche Notwendigkeit" bestimmen sie sein Handeln und Denken zu großen Teilen. Auch die körperliche Erscheinung, das Auftreten, die Haltung sind vom Habitus geprägt.

In "La Domination masculine" diskutiert Bourdieu das Konzept des Habitus im Kontext der Geschlechtlichkeit. Im Unterschied zum sozialen Habitus ist das Geschlecht jedoch "naturalisiert". Was ständig neu konstruiert und reproduziert werden muß, trägt den Anschein des Geschichts- und Zeitlosen. So werden die Körper, die eigentlich selbst in einem historischen Prozeß ihre zweigeschlechtliche Formung erhielten (hier immerhin verweist Bourdieu auf die Forschungen von Thomas Laqueur), als scheinbar natürlicher Beweis für die unterschiedlichen Dispositionen der Geschlechter gehandelt.

Um die Konstruktionsprozesse beschreiben und die Strukturen des kollektiven wie individuellen Unbewußten aufzudecken zu können, in denen diese geschlechtlichen Zuschreibungen verankert sind, nimmt Bourdieu einen zunächst überraschenden Umweg: Er greift auf seine ersten empirischen Arbeiten aus den sechziger Jahren zurück, die sich mit der nordalgerischen Kabylei beschäftigen. Der Blick auf diese durchgängig androzentrisch strukturierte Gesellschaft dient ihm als Analysehilfe; sie wird zum Instrument der "objektiven Archäologie unseres Unbewußten". Die kabylische Gesellschaft eigne sich insofern besonders, als in ihr noch die mediterrane Tradition lebendig sei, auf der auch die heutigen westeuropäischen Gesellschaften basierten.

Dabei lautet die Ausgangsthese, daß in der mythischen Vernunft alles nach dem Gegensatz zwischen männlich und weiblich strukturiert ist. Während diese Polarität in der kabylischen Gesellschaft sämtliche anderen Gegensätze bestimmt - alle Binaritäten also "vergeschlechtlicht" sind - ist die Sexualität in westlichen Industriegesellschaften in einen eigenen Bereich verwiesen (wie dies insbesondere Michel Foucault herausgearbeitet hat). Die Grundstruktur, die sich in der Kabylei vollständig erhalten hat und durch rituelle Praktiken ständig reproduziert wird, ist in unserer Gesellschaft zwar fragmentiert und gebrochen, bestimmt aber weiterhin unsere Wahrnehmung und unser Denken.

Bourdieus Ausführungen zur kabylischen Gesellschaft scheinen zwar nur Eingeweihten (also jenen, die Bourdieus Bücher zum Thema gelesen haben, auf die er auch wiederholt in seinen Fußnoten verweist) zugänglich. An manchen Stellen aber gelingt es ihm doch zu zeigen, wie Oppositionen, die im kabylischen System stark geschlechtlich bestimmt sind, auch in unserem Denken und in unserer Realität noch diese Konnotationen tragen: So besteht z.B. der Gegensatz zwischen hart und weich fort bis in die Trennung zwischen "harten" und "weichen" Wissenschaften, die auch weiterhin unterschiedlich stark von Männern und Frauen betrieben werden.

Die These von Claude Lévi-Strauss, Frauen seien die wichtigsten Tauschgüter auf dem symbolischen Markt, erhält so eine neue Bedeutung. Bourdieu zeigt auf, daß auch in der heutigen französischen Gesellschaft die Frauen im Haus für die Verwandlung des ökonomischen in symbolisches (also das im jeweiligen Kontext sozial angesehene) Kapital zuständig sind, und dieses Kapital mit ihrem Auftreten und ihrer Kleidung repräsentieren. Denn die männliche Herrschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß das Sein von Frauen wesentlich ein "Wahrgenommen-Sein" ist. Damit bleiben Frauen weiterhin die Instrumente zur Reproduktion symbolischen Kapitals - eine Funktion, welche sie schon innerhalb der Logik des Heiratsmarktes besaßen.

Aber auch Bourdieu scheint sich der symbolischen Ordnung nicht gänzlich entziehen zu können; nachdem er ausführlich dargelegt hat, wie allgegenwärtig die männliche Herrschaft ist, liefert er am Ende von "La Domination masculine" selbst ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wenn er in seinem "Postskriptum über die Herrschaft und die Liebe" die Aufhebung der Machtverhältnisse in der Liebe postuliert. Dieser magische Akt vollzieht sich zwar nicht in der amor fati, der Liebe, die sich mit dem Schicksal arrangiert, sich unterordnet und damit die Herrschaft akzeptiert, aber in der verrückten Liebe, der amour fou, kann "die gegenseitige Anerkennung (...) in ihrer völligen Reflexivität jenseits der Alternative zwischen Egoismus und Altruismus und sogar jenseits der Unterscheidung von Subjekt und Objekt bis zum Zustand der Verschmelzung und Kommunion führen".

Da drängt sich die Frage auf, ob hier nicht ein Wissenschaftler seine persönlichen Beziehungen vor dem scharfen Urteil retten muß, das er selbst soeben gefällt hat.

Pierre Bourdieu: La Domination masculine. Collection Liber / Éd. Seuil, Paris 1998, 154 S., FF 85