"Marrakesch": Kate Winslets erster Film nach "Titanic"

Nicht ohne meine Winslet

Was schlappe zwei Milliarden Dollar alles ausmachen können. Nach "Titanic" standen dem Traumpaar Jack und Rose alias Leonardo DiCaprio und Kate Winslet weltweit die Studiotüren offen. Kein Lunch am Sunset Strip ohne neues Filmangebot. Bei so viel Entscheidungsfreiheit setzten die beiden unterschiedliche Prioritäten. DiCaprio wurde Hollywoods Hot Shot Nummer eins: In Woody Allens neuem Film "Celebrity" gab er ein kurzes Gastspiel als launische Diva. Und läßt sich ansonsten von kreischenden Teenies und aufgebrachten Umweltschützern über den Set von "Der Strand" jagen.

Ganz anders Kate Winslet, um die es eine Weile ruhig geworden war. Die als schwierig geltende Engländerin kehrte der Traumfabrik den Rükken, nachdem sie bei der Oscar-Verleihung im vergangenen Jahr leer ausgegangen war. Statt dessen setzte sie sich für kleinere Produktionen ein, die ohne ihre Besetzung keine Chance auf Finanzierung gehabt hätten. Jetzt kommt ihr erster Film nach dem Untergang der "Titanic" in die Kinos. "Marrakesch" ist die Verfilmung des Romans einer berühmten Urenkelin eines noch berühmteren Urgroßvaters.

Esther Freud, Enkeltochter von Sigmund Freud, erzählt darin die autobiographisch angehauchte Geschichte der Flucht einer 25jährigen Mutter nach Nordafrika. Vom England der Hippie-Ära hat Julia (Kate Winslet) die Nase voll. Zu Beginn der siebziger Jahre flieht sie aus ihrer feuchten Ein-Zimmer-Altbauwohnung und vor einer gescheiterten Beziehung unter die warme Sonne Afrikas. In Marokko sucht sie nach dem Sinn des Lebens (wahrscheinlich ist sie nur deshalb nicht nach Indien gereist, weil ihr Geld nicht gereicht hat).

Doch in Marokko fühlt sie sich ziemlich fehl am Platze, nicht nur wegen ihres englischen Upper-Class-Akzents. Zum Glück hat sie ihre beiden Töchter an der Seite, die selbst dann den Durchblick behalten, wenn Mutter mal wieder nicht weiter weiß. Nur als die ältere Tochter, die 8jährige Bea (Bella Riza), auf einem geregelten Leben mit Schule und den ganzen anderen lästigen Sachen besteht, stößt sie auf taube Ohren. "Erinnerst du dich nicht mehr?" fragt Julia. "London ist kalt. Kalt und traurig." Und so bleiben sie in Marokko, auch, als sich Julia erst in einen Straßenakrobaten (Said Taghmaoui) verliebt und später, ganz landestypisch, mit dem Ziel der "Auslöschung des Egos" bei einem weisen Scheich vorspricht.

Bevor sie nicht zu sich selbst gefunden hat, gibt es keinen Weg zurück nach Hause. "Marrakesch" folgt der Reise von Julia mit von Kameramann John de Borman klasse eingefangenen Bildern. Vor allem deshalb ist "Marrakesch" mehr als "nur" eine Romanverfilmung. De Bormans und Regisseur Gillies MacKinnons Bildersprache übersetzt die verquatschten Dialoge der Vorlage.

Julia versucht sich aus der Enge ihres Alltags zu befreien und landet in den schmalen Gassen der Altstadt von Marrakesch. Außergewöhnlich ist der Film, weil er sämtliche Wendepunkttheorien und der in Hollywood nicht erst jüngst grassierenden "Reise des Helden" eine unkonventionelle Dramaturgie entgegensetzt, die allein der jungen Mutter und ihren Töchtern folgt, anstatt auf Action und Effekte zu setzen. Kein Wunder, daß Kate Winslet für diesen Film erst nach Europa zurückkehren mußte.

"Marrakesch". GB/F 1998. R: Gillies MacKinnon, B: Billy MacKinnon, D: Kate Winslet, Said Taghmaoui, Bella Riza, Carrie Mullan. Start: 15. April