Der kleine Unterschied

Die Medien entdecken ihr Herz für Flüchtlinge - wenn sie nur aus dem Kosovo kommen. Für die Ausländerbehörden bleibt dagegen alles beim alten

Mit einem Mal klingelten vergangene Woche bei einer kleinen regionalen Tageszeitung im Brandenburgischen ununterbrochen die Telefone: Journalisten von der Boulevardpresse und den Nachrichtenagenturen, von Fernsehsendern und den großen überregionalen Zeitungen wollten mehr wissen über eine Geschichte aus der Lausitzer Rundschau.

Um was es geht, ist schnell erzählt: Der Familie M., die aus dem Kosovo geflohen ist und jetzt in Cottbus lebt, droht die Abschiebung nach Tschechien, von wo sie im vergangenen November illegal in die Bundesrepublik eingereist war. Weil die Einreise über einen sicheren Drittstaat einen juristisch einwandfreien Grund darstellt, die Familie dorthin zurückzuschieben, ist der Anwalt der Familie nicht vor Gericht gezogen, sondern hat den Petitionsausschuß des Landtages angerufen: Über das Schicksal der Familie M. sollte nicht juristisch, sondern politisch entschieden werden. Denn die Familie hat ein schwerkrankes Neugeborenes, das in Cottbus in guter ärztlicher Obhut ist. Ein Wohnortwechsel wäre eine unvertretbare Härte, zumal auch Verwandte in Cottbus wohnen. Dennoch hat das Brandenburger Innenministerium mit Verweis auf die illegale Einreise über den sicheren Drittstaat die Petition negativ beschieden. Der Petitionsausschuß wird am heutigen Mittwoch sein Votum abgeben.

Keiner der Beteiligten hatte damit gerechnet, daß sich die gesamte Presse für die Geschichte interessieren würde: Die Lausitzer Rundschau ebensowenig wie die freie Journalistin, die die Geschichte recherchiert hatte; der Brandenburger Flüchtlingsrat nicht, der die Presse informiert hatte; nicht das Innenministerium, das ja schließlich nur entschieden hatte wie in vielen vergleichbaren Fällen auch; und nicht die PDS-Abgeordnete, die für die Petenten eintritt. Bei jedem, der in der Zeitunggenannt wurde, schrillte den ganzen Tag über das Telefon. Einen Tag lang stand die vor sechs Monaten dem Schrecken im Kosovo entkommene Familie M. im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.

Warum interessierten sich plötzlich sämtliche Medien für das Schicksal von Familie M., die seit fast sechs Monaten in Deutschland lebt, und von der bisher niemand etwas wissen wollte? Wo doch die Lausitzer Rundschau nicht einmal erwähnt hatte, warum die Familie geflohen war: Serbische Milizen hatten ihr Haus beschossen.

Flüchtlinge, die illegal einreisen, galten bislang als "Wirtschaftsflüchtlinge", als "Asylmißbraucher", als "Sozialschmarotzer" und "Illegale", die von "skrupellosen Menschenhändlern, die sie für ihre menschenverachtenden Zwecke mißbrauchen, eingeschleust wurden". Das ist Familie M. nicht anders gegangen: Ihr Asylantrag war mit Verweis auf die illegale Einreise über einen sicheren Drittstaat abgelehnt worden. Und der "skrupellose Menschenhändler" hat in diesem Fall sogar ein Gesicht: Der Schwager aus Cottbus hat die Verwandten aus einer sächsischen Grenzstadt abgeholt und zur Erstaufnahmestelle nach Eisenhüttenstadt begleitet. Er mußte dafür vier Monate lang in Untersuchungshaft sitzen. Danach wurde er von einem sächsischen Gericht als Schleuser rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Daß Flüchtlinge, die illegal über einen sicheren Drittstaat einreisen (und dazu zählen alle Staaten, von denen die Bundesrepublik umgeben ist), dorthin abgeschoben werden können, falls den Behörden dieser Staat bekannt wird, ist seit 1993 Gesetz. Kaum jemanden hat das bislang gestört. Es handelte sich ja nur um Asylmißbraucher. Und daß Deutschlands Nachbarstaaten wiederum mit ihren Nachbarstaaten ähnliche Rückübernahmeabkommen geschlossen haben, weshalb oftmals eine Kettenabschiebung bis hin ins Verfolgerland möglich ist, interessierte auch kaum jemanden.

Bei den Kosovo-Flüchtlingen ist das seit wenigen Wochen anders. Millionen von Fernsehzuschauern haben die Bilder aus den Elendslagern rund um das Kosovo gesehen. Die Lausitzer Rundschau brauchte noch nicht einmal den Fluchtgrund der Familie M. anzugeben. Plötzlich glaubte man, daß sie aus gutem Grund geflohen war. Und selbst die spärlichen Mittel, die Flüchtlingen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zustehen, erscheinen jetzt in einem anderen Licht: Die armen Menschen, sie haben nicht mal Bargeld zum Telefonieren! Wen hat das vor zwei Monaten interessiert?

Die Berichterstattung vom Kosovo-Konflikt hat die öffentliche Meinung über Flüchtlinge - zumindest von Kosovo-Albanern - gründlich geändert: Aus "Asylmißbrauchern" sind schutzbedürftige Menschen geworden. Politiker und Medien nennen sie immer öfter nicht Flüchtlinge, sondern "Vertriebene", um den Unterschied deutlich zu machen. Als ob nicht auch Frauen aus Afghanistan oder Tamilen aus Sri Lanka aus ihrer Heimat vertrieben würden.

Die Politik legt Wert auf den feinen Unterschied. "Bei Familie M. handelt es sich nicht um anerkannte Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo, zu deren Aufnahme sich Deutschland aus humanitären Gründen bereit erklärt hat. Sie ist im vergangenen Jahr illegal nach Deutschland eingereist und kann auch jetzt nicht nachträglich als Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt werden", schreibt Manfred Füger, der Sprecher des Brandenburger Innenministeriums. Familie M. muß sich also nach Tschechien und weiter per Kettenabschiebung bis nach Albanien oder Mazedonien zurückschieben lassen, um sich in einem der Lager um Aufnahme in Deutschland zu bewerben. Aber vielleicht klappt das gar nicht. Denn bei Familie M. handelt es sich ja nicht um Vertriebene, sondern nur um eine Familie, die lange vor Kriegsausbruch von den serbischen Milizen bedroht worden war.

Gott sei Dank muß ja das Brandenburger Innenministerium nicht die Frage beantworten, warum die Nato einen Krieg zur Beendigung der "humanitären Katastrophe" im Kosovo begonnen hat, wenn es doch bis dahin noch nicht einmal Bürgerkriegsflüchtlinge gab. Oder war der Bürgerkrieg im Kosovo bis zum 24. März nicht so schlimm, daß Menschen fliehen mußten?