Geschichte als Gleichung

Joseph Fischer beruft sich lässig auf den Schwur "Nie wieder Auschwitz". Die Überlebenden der Shoah sind in ihrer Haltung zum Krieg gespalten

Der zur Zeit beliebteste deutsche Politiker heißt Joseph Fischer. Als geläuterter Linker war es seine Aufgabe, dem deutschen Krieg gegen Jugoslawien die einzig mögliche Begründung zu geben. So vergeht kein Tag, an dem er nicht von "Konzentrationslagern" und von "Deportationen" spricht und behauptet, ausgerechnet "Nie wieder Auschwitz" sei eine der wenigen Konstanten seiner politischen Überzeugung.

Dabei gehört er, ebenso wie Gerhard Schröder und die anderen Mitglieder der Bundesregierung, nach Ansicht des Politologen Andrei Markovits, zu "einer Gruppe der 68er", für die "der Holocaust leider wirklich ein Thema unter ferner liefen" gewesen sei: "Sie interessieren sich nicht dafür, sie kannten es nicht, und sie kennen es eigentlich bis heute nicht", sagte Markovits während einer Diskussion der Zeitschrift konkret über die Folgen der Walser-Debatte. Das hinderte den Außenminister nicht

daran, nicht nur den Krieg zu befürworten, sondern ihn auch mit Auschwitz (Jungle World, Nr. 16/99) zu rechtfertigen.

Auf Platz zwei der Rangliste finden wir Rudolf Scharping. Gerade seine Glücklosigkeit prädestiniert ihn dazu, die deutsche Opfermythologie wiederzubeleben, indem er fortwährend behauptet, über geheime Nato-Informationen zu verfügen, die er der deutschen Öffentlichkeit nicht zugänglich machen könne, und zugleich indigniert zugibt, daß es seinen Aufklärungsdrohnen bislang nicht gelungen sei, ein "KZ" im Kosovo zu entdecken (weshalb immer mehr dieser Flugapparate losgeschickt werden). Die Deutschen seien Opfer der Informationspolitik der Nato, so Scharping, die Wahrheit sei zu grausam, als daß sie über die Sender gehen könnte; dabei sind doch gerade sie an Bildern von Leichenbergen und vertriebenen Flüchtlingen interessiert. Weil er als Loser gilt, macht er seinen Job so gut; wenn es schief geht, sind jedenfalls die anderen schuld. Die Deutschen wollten nur ganz naiv ein "neues Auschwitz" verhindern.

Auf der einen Seite ermöglicht diese Gleichsetzung auch Pazifisten die moralisch einwandfreie Befürwortung des Krieges - mittlerweile gehört es zum guten Ton, "innerlich zerrissen" (Fischer) zu sein. Diese vordergründige Widerwilligkeit, den Krieg zu führen, ist jedoch nicht schon ein vorgezogenes Rückzugsgefecht, falls der Krieg in einem Debakel endet, im Gegenteil: Sie ist die Vorab-Legitimation des Einsatzes aller Mittel.

Auf der anderen Seite bringt diese Gleichsetzung auch einige Kriegsbefürworter in Widersprüche - jene, die innerlich zerrissen sind, weil sie nicht nur keine Pazifisten sind, sondern weil sie am weltweiten Schutz von Minoritäten ein existentielles Interesse haben. Deswegen sehen sie keine Alternative zu den Bombardements, und den Verweis auf die imperialistischen Interessen der Nato-Staaten auf dem Balkan quittieren sie mit einem Achselzucken.

Zahlreiche jüdische Überlebende des Holocaust haben sich in den vergangenen Wochen so geäußert, und das Medieninteresse war ihnen sicher. So meint der Nobelpreisträger Elie Wiesel, der Einsatz sei "moralisch erforderlich", und formuliert damit die vorherrschende Meinung unter den Juden in den USA. Marek Edelman, der letzte noch lebende Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, forderte gar den Einsatz von Bodentruppen im Kosovo. Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte, er sei "hin- und hergerissen".

Aus Solidarität mit den albanischen Flüchtlingen treten alle möglichen Bedenken in den Hintergrund. "Sieht man dem Völkermord zu, setzt man sich der Kritik aus, man habe ihn nicht verhindert. Greift man militärisch ein, heißt es, man treffe Unschuldige", so Bubis. Mit dem Begriff "Völkermord" befindet er sich zumindest in Deutschland schon auf dem halben Weg zur Gleichsetzung, denn hier wird dieser vor allem im Zusammenhang mit der deutschen Vergangenheit benutzt. Zugleich aber grenzt auch er sich ab: Zwischen Slobodan Milosevic und Hitler, zwischen der Situation im Kosovo und der Shoah gebe es keine Parallelen.

Hier setzt auch die Kritik von zahlreichen anderen Überlebenden an, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben und damit kaum auf Resonanz in den Medien stießen. In einem Offenen Brief an Fischer und Scharping kritisieren sieben ehemalige Verfolgte, unter ihnen die ehemaligen Auschwitz-Häftlinge Esther Bejarano und Kurt Goldstein sowie der antifaschistische Widerstandskämpfer Peter Gingold, die Gleichsetzung grundsätzlich als "aus Argumentationsnot für eine verhängnisvolle Politik geborene Verharmlosung des in der bisherigen Menschheitsgeschichte einmaligen Verbrechens".

Historisch sei die Charta der Vereinten Nationen eine Konsequenz aus Faschismus und Krieg. Deswegen habe, wer die "antifaschistische, den Menschenrechten verpflichtete Rolle der Uno nicht nutzt, sondern die Uno ausschaltet und schwächt, (Ö) jedes Recht verloren, sich auf antifaschistische Postulate wie 'Nie wieder Auschwitz' zu beziehen". Im Gegenteil werde eine Folge dieser Ausschaltung der Uno "ein Wiedererwachen der Kräfte sein, die 1945 entscheidend geschlagen zu sein schienen".

Zugleich ziehen auch sie historische Parallelen: Sie erinnern daran, daß Deutschland schon zwei Mal in diesem Jahrhundert gegen Serbien Krieg führte; daß die Bundeswehr heute noch "Serbenschlächter" des Ersten und des Zweiten Weltkriegs wie August von Mackensen und Karl-Wilhelm Thilo ehrt - nach Mackensen, der im Ersten Weltkrieg für äußerste Härte gegen die serbische Zivilbevölkerung verantwortlich war, ist eine Kaserne benannt, Thilo war Wehrmachtsoffizier und später Generalmajor der Bundeswehr und Kommandeur jener 1. Gebirgsjäger-Division, die heute wie im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan präsent ist.

Nur unter Bruch des Völkerrechts und anderer Verträge sei es dem heutigen Deutschland möglich, Krieg zu führen. Die Menschenrechte sind auch für sie der zentrale Bezugspunkt, nur ist es für sie die Uno, die "zur Verwirklichung und Verteidigung der antifaschistischen Errungenschaften der Völker" berufen ist. Aber das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Überlebenden, die den Krieg befürworten bzw. ablehnen. Neben der Kritik an der Gleichsetzung ist es die sich zwischen den Zeilen vermittelnde Einschätzung, daß die Nachkriegsordnung mit diesem Krieg endgültig zerbrochen sei.

Kriegsgegner und Kriegsbefürworter eint der Bezug auf das Völkerrecht und die Menschenrechte. Jenseits der Realpolitik eines Konfliktmanagements fällt auch ihnen nichts ein, denn schließlich sind auch für sie Begriffe wie Volk, Staat und Menschenrecht sakrosankt. Die falsche Alternative Zivilgesellschaft oder Barbarei läßt nicht nur die zum Krieg drängende Verwertungslogik des Kapitals unangetastet, schlimmer noch, nimmt man diese Alternative ernst, muß man den Krieg als "humanitäre Intervention" gutheißen - allenfalls kann man kritisieren (was ja auch viele tun), daß nicht alle diplomatischen und politischen Möglichkeiten ausgenutzt wurden, um ihn zu verhindern.

Die Renaissance des Nationalismus beunruhigt die Überlebenden, aber mit unterschiedlichen Konsequenzen: Während die einen, wie schon im Golfkrieg, keine Alternative zu einer an Demokratie und Menschenrechten orientierten Weltordnung sehen, deren Aufgabe vor allem darin besteht, regionale Despoten in Schach zu halten, bestehen die anderen noch auf dem Primat des Völkerrechts beim Vorgehen gegen Menschenrechtsverletzungen.

Daß das Völkerrecht die Grundlage für die Unabhängigkeitsbestrebungen unterschiedlichster Gruppierungen ist und die Menschen- und Minderheitenrechte nicht im Widerspruch zum völkischen Nationalismus stehen, sondern seine Grundlage sind, auf die sich - eben zu Recht - auch die Nato heute beruft, belegt zwar die Hilflosigkeit dieser Argumentation, sagt aber nichts darüber aus, wie das "Wiedererwachen der Kräfte, (...) die 1945 entscheidend geschlagen zu sein schienen", zu verhindern sei.

Unterdessen fühlen sich viele Linke, die eine Solidarisierung mit Ignatz Bubis in der Walser-Debatte abgelehnt und darauf hingewiesen haben, daß es sich bei Bubis um einen bürgerlichen Politiker handele, mit dem die Gemeinsamkeiten schnell ein Ende hätten, bestätigt. Auf einer konkret-Diskussionsveranstaltung zum Krieg ließ das linke Publikum lieber die Kriegsgegnerin Sibylle Tönnies, die als deutsche Mutter potentieller Soldaten an "weibliche Eigenheit" appellieren durfte, ausreden, während Michel Friedman, Kriegsbefürworter und Jude, kaum einen Satz zu Ende sprechen konnte, ohne unterbrochen zu werden. Die anwesenden Freundinnen und Freunde aller unterdrückten Völker hatten in ihm ihren gemeinsamen Gegner gefunden.