Kontinentalverschiebung

Während der Kanzler nicht von der Seite der USA weicht, schaut sich sein Außenminister nach neuen Bekannten um.

Von Karl Lamers, dem Außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, hat man in letzter Zeit wenig gehört. Am vergangenen Donnerstag plädierte er in der Bundestagsdebatte mit "Unbehagen" für eine Separation des Kosovo von Jugoslawien, bekräftigte allerdings vorbeugend, welch edlen Antrieben eine solche Lösung zu verdanken wäre: "Vielleicht gar noch nie hat es eine kriegerische Auseinandersetzung gegeben, die auf der einen Seite so ausschließlich von moralischen Motiven getragen war, wie das im Kosovo-Konflikt für die Nato-Länder zutrifft. Selbst den USA - sonst für jeden Verdacht gut - wird von niemand Ernstzunehmendem ein geostrategisches Interesse oder ähnliches unterstellt - welches wohl auch?"

Die Antwort kam am nächsten Tag aus San Francisco, wo US-Präsident William Clinton eine außenpolitische Grundsatzrede hielt. Die FAZ faßte zusammen: "Das Engagement Amerikas auf dem Balkan werde nicht mit einer Befriedung des Kososvo (Ö) enden. Die Vereinigten Staaten seien vielmehr an einem stabilen Südosteuropa interessiert. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse Amerika langfristige politische, militärische und wirtschaftliche Verpflichtungen in dieser Region eingehen. (Ö) Clinton ließ keinen Zweifel daran, daß Amerika beim Wiederaufbau der Region die Führungsrolle zukomme." Gegen ein unabhängiges Kosovo spreche, "daß ein moderner Staat seine Existenzberechtigung nicht mehr allein aus der Volkszugehörigkeit seiner Bürger ableiten könne. Der Balkan dürfe nicht noch weiter in immer kleinere, rein ethnisch definierte unabhängige Staaten zersplittert werden."

Eine absolut unzweideutige Adressse an Bonn, aber im Rahmen der diplomatischen Gepflogenheiten. Die hatte, in der gleichen Sache, US-Außenministerin Madeleine Albright letzten Donnerstag kurz vergessen. In Reaktion auf den von Außenminister Joseph Fischer vorgelegten Friedensplan hatte sie darauf hingewiesen, daß Deutschland durch die frühe Anerkennung Sloweniens und Kroatiens entscheidend zur militärischen Eskalation auf dem Balkan beigetragen habe. Das ist zwar nicht neu, wurde aber bisher nie auf höchster Ebene verhandelt. Trotzdem wurde der Affront von den hiesigen Medien fast durchweg ignoriert.

Die gereizten Klarstellungen aus den USA resultieren aus den aktuellen Unwägbarkeiten der deutschen Außenpolitik. Fischers Friedensplan - entstanden auch zur Beruhigung von Kriegskritikern in den Regierungsparteien (siehe S.8) - schlug zwei Breschen in die bisher verfolgte und einheitlich vertretene Nato-Strategie, die einen Abbruch der Bombardements stets vom Einlenken Milosevics abhängig gemacht hatte: Die von Fischer angebotene Feuerpause bedeutete nun eine Vorleistung der Nato, noch schwerer allerdings wogen die Anstrengungen der Bonner Regierung und Opposition, Rußland ins Spiel zu bringen.

Damit verbunden war die Absicht, ein Ende des Terrors im Kosovo durch eine internationale Truppe überwachen zu lassen, die mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgestattet ist: Ebenfalls ein Vorschlag, der in den USA, deren Verhältnis zur Uno völlig zerrüttet ist, als Provokation ankam. Der Fischer-Plan bemühe sich "um die Wiederbelebung drei schwerbeschädigter Opfer der Nato-Strategie: um die Vereinten Nationen, das Völkerrecht und die westlich-russischen Beziehungen", schrieb ein Kommentator der taz, und: "Es geht nämlich um den Frieden in Europa, nicht um die Demonstration amerikanischer Hegemonie."

Im deutschen Establishment, das auch Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein neuerdings wieder als "herrschende Klasse" bezeichnet, zirkulieren zwei (geo-)strategische Optionen, die nicht mit dem Kosovo-Konflikt enstanden sind, in diesem allerdings weiter an Kontur gewinnen: Die eine Option steht in der Nachkriegstradition und setzt, eine weitgehende Interessenkonvergenz im Blick, auf "Partnership in Leadership", also auf eine hegemonial orientierte Kooperation mit den USA und im Rahmen der Nato. Die andere will Hegemonie über eine deutsch dominierte EU und unter Einbeziehung Rußlands. Diese kontinentale Option ist einer Blocklogik verhaftet und längerfristig darauf angelegt, kommende Differenzen mit den USA auch konfrontativ auszutragen, bei Schwächung oder Zerstörung der Nato.

Die Kontinentaloption wäre die aggressivere Variante künftiger deutscher Außenpolitik. Sie hat - wegen ihres US-kritischen Gehabes - viele linke und liberale Freunde, ihr publizistischer Frontmann ist seit Jahren Augstein, der letzte Woche mit Blick auf das Kosovo schrieb: "Die amerikanisch diktierte Nato-Philosophie hat versagt. (Ö) Der Balkan ist auf unabsehbare Zeit destabilisiert durch das ungeschickte Diktat der Amerikaner und die Uneinigkeit der Europäer."

Auf der diplomatischen Ebene war diese Formation während der letzten beiden Wochen an zwei Punkten zu identifizieren: In den energischen - und den erklärten Vorlieben der US-Regierung entgegengesetzten - Bemühungen um Rußland und an der Weigerung, unter Führung der USA das Kosovo mit Bodentruppen zu erobern. Positionen, die die Kerneuropa-Strategen um CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble teilen und die kürzlich in der Reise des bayerischen Ministerpräsidenten nach Moskau ihren konzentrierten Ausdruck fanden: Edmund Stoiber, begleitet von Karl Lamers, verkündete dort demonstrativ, der Konflikt sei nur politisch und mit Rußland zu lösen, die Unionsparteien seien strikt gegen die Entsendung von Bodentruppen.

Die kontinentale Blockbildung ist bereits erprobt, im Irak: Als im Spätsommer 1996 Truppen Saddam Husseins und des Kurdenführers Masud Barzani im Nordirak einmarschierten, mußten US-Hilfsorganisationen und CIA-Personal in einer Blitzaktion evakuiert werden. Das Vakuum in dieser strategisch wichtigen Region wurde von Deutschen und Franzosen gefüllt, deren Regierungen im Verein mit der russischen bereits damals konkrete Pläne für weitgehende Embargolockerungen und eine intensive Wirtschaftskooperation mit dem Hussein-Regime hatten. Deshalb wurden Ziele im Irak in den vergangenen Monaten regelmäßig von amerikanischen und britischen Bombern angeflogen.

Eine Konstellation, die nun erneut aufscheint. Bekannt ist, daß Frankreichs Außenminister Hubert Védrine von seinem Premier bereits wegen allzu enger Übereinstimmung mit der US-Außenministerin Albright gerügt wurde. Zudem dachte in Paris wie in Bonn bisher niemand ernsthaft daran, Bodentruppen in das Kosovo zu entsenden - während die britische Regierung diese Frage offen hielt, wenn nicht gar dafür optierte.

Sehr anschaulich hat die ARD-Korrespondentin in Paris, Sonia Mikich, am vergangenen Freitag in der taz mögliche Frontlinien der Zukunft beschrieben: "Washington und der folgsame kleine Bruder in London setzen eine angloamerikanische Weltordnung auf dem europäischen Kontinent durch. Sie haben das deutsch-französische Duo beiseite gedrängt, das bislang Europa nicht ungeschickt vorwärtsbrachte. Sie haben die Russen in ihrem alten Interessensgebiet vorgeführt." Was liegt da näher als Gegenwehr?

Gegen die Kontinentaloption einer Achse Moskau-Berlin-Paris waren diejenigen, die eine Fortsetzung des bisherigen Juniorpartner-Verhältnisses zu den USA favorisieren, zuletzt in der Defensive. Der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses und frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, steht mit seinem Ruf nach Bodentruppen in der deutschen Politik ziemlich allein, allerdings findet die US-Linie einer Zurückweisung des Fischer-Plans den Beifall der FAZ, die unter der Überschrift "Die Nato muß fest bleiben" für das Offenhalten des Einsatzes von Bodentruppen plädierte.

Die rotgrüne Bundesregierung ist in der Klemme. Der Spiegel berichtete am Montag, Kanzler Schröder habe vergangene Woche im Kreis der EU-Regierungschefs erklärt, "es gebe überhaupt keinen deutschen Friedensplan". "Tatsächlich" - und entgegen anderslautenden Meldungen - sei "der Fischer-Plan in Brüssel nicht beraten worden". Für den Spiegel ein klarer Fall von "Doppelstrategie": Schröder sei - den USA und der Nato zuliebe - für das Durchgreifen gegen Milosevic zuständig, Fischer für das Ausloten von Verhandlungsoptionen. Klingt nach Business as usual , reduziert aber die Komplexität des Falles ein wenig zu flott.

Die Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel haben eine Politik betrieben, die die "gewachsene Verantwortung Deutschlands" mal in Gefolgschaft, mal in Abgrenzung zu den USA nutzte - das vor allem bei der völkischen Parzellierung Jugoslawiens. In seiner expliziten Selbstverpflichtung zur "Kontinuität" ist Joseph Fischer nun mit der - absehbaren - Zuspitzung dieser Widersprüche konfrontiert.

Nur scheinbar paradox: Unabhängig von der Absicht und aus Sicht der USA sind Fischers Friedensplan, die Bonner Bemühungen um Moskau und die offiziell kategorische Ablehnung von Bodentruppen Bestandteil jener Kontinentaloption, die die denkbar offensivste Wendung deutscher Außenpolitik markiert, derzeit aber äußerst friedliebend und parteiübergreifend daherkommt. Schröder weiß das: Kaum zufällig hat er während der vergangenen Wochen mehrmals und ungefragt betont, die Einbindung in die westliche Staatengemeinschaft sei Teil der "deutschen Staatsräson", einen "Sonderweg" werde es "mit uns" nicht geben.

Was tun? Ein Tip vom Spiegel: "Den Bonnern muß der Balance-Akt, sich zwar aus den straffen Zügeln der amerikanischen Führungsmacht zu lösen, zugleich aber jeder Versuchung zu widerstehen, eine deutsche Sonderrolle zu spielen, womöglich noch im engen Bund mit Rußland, erst noch gelingen." Wie quadriert man einen Kreis?