Die Nato sorgt für ihre Zukunft

Militärisches Perpetuum Mobile

Wäre es je das Ziel der Nato gewesen, mit dem Kosovo-Einsatz "das Elend der Flüchtlinge zu beenden", wie Sprecher des Militärbündnisses und Regierungschefs pausenlos beteuern, dann müßte die Tatsache, daß nicht nur dieses Ziel nicht erreicht wurde, sondern das genaue Gegenteil eingetreten ist, als Grund für einen sofortigen Stopp der Luftangriffe ausreichen. Daß dies nicht geschieht, beweist, daß es sich bei diesem Ziel um ein reines Propagandaziel handelt.

Was will die Nato sonst? Milosevic schwächen? Der serbische Präsident ist innenpolitisch so stark wie selten zuvor. Eine Schutzzone im Kosovo einrichten? Schwierig, wenn alle Kosovaren geflohen sind. Jugoslawien auf vorindustriellen Stand zurückbomben? Die zahlreichen Angriffe auf wirtschaftliche und infrastrukturelle Ziele ohne jede Relevanz für den serbischen Militärapparat sprechen dafür, doch wer könnte davon profitieren? Soll das Land nach den Angriffen Bestandteil einer wie auch immer gearteten stabilen Ordnung auf dem Balkan werden, dann wird der Westen nicht darum herumkommen, Wiederaufbauhilfe in einer Höhe zu leisten, die die Kosten des Krieges weit übertrifft.

Die eigentliche Absicht, welche die Nato mit ihrem Krieg gegen Jugoslawien verfolgt, dürfte überhaupt nicht in der Region zu suchen sein, sondern in der Nato selbst. Denn mit den Angriffen arbeitet das westliche Bündnis in zweierlei Hinsicht an einer Fortschreibung seiner eigenen Rolle. Zum einen prescht sie als ausführendes Organ eines neuen Verständnisses von Völkerrecht vor, wobei es in den Augen der westlichen Politiker nur ein geringer Mangel ist, daß damit die bisherigen, auf der Souveränität von Staaten und klar definierten Kriterien für die Mandatierung sogenannter humanitärer Militäreinsätze beruhenden Völkerrechtsprinzipien de facto und auf Dauer außer Kraft gesetzt werden.

Die mühsamen Versuche vor allem bundesrepublikanischer Politiker, den Begriff der "Nothilfe", welcher nach bisheriger Lesart des Völkerrechts lediglich die Hilfe für einen souveränen Staat bezeichnete, der Opfer eine Aggression geworden ist, auf Ethnien umzumünzen, um damit den Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu begründen, lassen bereits die Umrisse dessen erkennen, was einmal eine neue Weltordnung werden könnte. De facto würde es eine universale Ermächtigungsklausel für das westliche Bündnis darstellen.

Dieses Unterfangen kann aber nur gelingen, wenn die Nato im Kosovo irgendeine Art von Erfolg vorweisen kann. Sollte sie gezwungen sein, die Angriffe zu beenden, ohne daß sich an den machtpolitischen Konstellationen in der Region wesentliches geändert hat, so stünden damit künftig ähnlich geartete Einsätze zumindest zur Diskussion. Auch aus diesem Grund ist es nicht unwahrscheinlich, daß sich das Bündnis, trotz aller innenpolitischen Turbulenzen, die dies auslösen dürfte, schon bald zu einem Bodeneinsatz entschließt. Nach einem Bericht des britischen Observer vom Wochenende finden hierfür schon Planungen statt in einer Weise, die "noch vor einem Monat ein völliges Tabu war".

Doch die Militärs und Politiker rechnen noch mit einer zweiten Begleiterscheinung des Kosovo-Angriffs: Die Aktion stößt im Machtblock Rußland-Belorus-Ukraine auf heftigste Gegenwehr, welche wohl allein wegen der ökonomischen Abhängigkeit dieser Volkswirtschaften von einem beständigen Kapitaltransfer aus dem Bereich der Nato-Staaten noch nicht zu einer aktiven Unterstützung für Jugoslawien geführt hat. Jenseits aller gegenseitigen Ressentiments zu einer Zeit, als die Sowjetunion und Jugoslawien noch in ihren alten Grenzen bestanden, entsteht zur Zeit mit einer Mischung von christlicher Orthodoxie und verbindenden Ideologieelementen eine neue Form des Panslawismus, die ihren Ausdruck bereits in dem "Dreibund" Moskau-Kiew-Belgrad gefunden hat. Die Aggressivität - oder besser: Defensivität - dieses Bündnisses bemißt sich an der Rücksichtnahme auf das Hemmnis, welches die westlichen Kredite, vor allem an Rußland, darstellen.

Welche reale Gefahr von einer solchen Konstellation ausgehen könnte, ist im hier diskutierten Zusammenhang sekundär. Für die Zwecke der Nato reicht es momentan aus, daß das Szenario einer kommunistischen Machtübernahme in Rußland die Notwendigkeit des Fortbestehens eines westlichen Bündnisses mit starker atomarer Komponente begründet. Insofern hat Boris Jelzin seinen westlichen Gesprächspartnern einen Freundschaftsdienst erwiesen, als er vor zwei Wochen mit seiner Rede vom "Dritten Weltkrieg" und mit Gerüchten über die Reaktivierung der Zielcodes auf Westeuropa gerichteter Atomraketen Panik streute.