25 Jahre Nelkenrevolution

Nase im Wind

Wenn Europa ein Gesicht hätte, wäre Portugal seine Nase. Vor ihm läge dann Afrika und der Atlantik, das restliche Europa hingegen im Rücken - Spanien wäre der Hals, Frankreich der Bauch und Deutschland das Hinterteil. Lange Zeit blickte Portugal dem Kontinent voraus: Dort wurde der erste Nationalstaat gegründet, und mit den Entdeckungen der Aufstieg Europas zur Weltmacht eingeleitet.

Seine einstige Vorreiterrolle hat das Land nie vergessen können. Die glorreiche Vergangenheit hatte sich längst in einen traurigen Mythos verwandelt, als sich Portugal am 25. April 1974 endlich von seiner Kolonialgeschichte verabschiedete - und gleichzeitig die längste faschistische Diktatur in Europa beendete. Mit der "Nelkenrevolution" begann das westlichste Land des Kontinents, sich neu zu orientieren. Seitdem blickt das Land am Rand auf das Zentrum. Und der alte Mythos wird in dem Stolz, jetzt Teil des neuen, mächtigen Europa zu sein, transformiert und damit neu belebt.

"Orgulhoso s-", in stolzer Größe ganz allein, so sollte sich Portugal nach dem Willen des faschistischen Diktators Ant-nio de Oliveira Salazar ewig behaupten. Daraus wurde nichts: Der Krieg, den das kleine Land mit Hilfe der Nato in Afrika führte, kostete Portugal ungefähr soviele Opfer, wie die USA zeitgleich in Vietnam zu beklagen hatten - und einige Hunderttausend Afrikaner verloren ihr Leben.

Am Ende stürzte die "Bewegung der Streitkräfte" den Salazar-Nachfolger Marcello Caetano. Und mit dem Dikator wurde auch der alten Oligarchie zeitweise die Macht entrissen. Eine Handvoll Familien, die Handel und Banken kontrollierten, hatten von der ruhmreichen Vergangenheit bestens profitiert. Was folgte, war ein kurzer Sommer der Freiheit, wie es ihn - außer vielleicht im anarchistischen Spanien von 1936 - in Europa nicht gegeben hatte. Großgrundbesitzer im Alentejo wurden enteignet, basisdemokratische Volksräte eingesetzt. Portugal hatte für einige Zeit die demokratischste Verfassung Europas.

Lange hielt das nicht. Schrittweise wurden die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften zurückgenommen. Spätestens mit dem EU-Beitritt 1986 war die Exkursion in die "poder popular" vorbei, Realpolitik angesagt.

Etwas anders blieb dem Land auch kaum übrig. Im Rahmen einer merkantilistischen Wirtschaftsordnung, die sich seit den Eroberungen kaum verändert hatte, exportierte Portugal exklusiv Industrieprodukte zweifelhafter Qualität in die Kolonien und erhielt dafür deren Rohstoffe fast umsonst. Der einfache Warentausch brach mit dem Ende des Kolonialreiches abrupt zusammen; der abgeschottete Markt mußte geöffnet, die hoffnungslos veraltete Industrie dem westeuropäischen Standard angepaßt werden.

Zugleich mit ökonomischen Modernisierung erfolgten auch soziale und kulturelle Veränderungen. Die Macht der katholischen Kirche ließ nach, Frauen wurden, zumindest im Beruf, als halbwegs gleichberechtigte Wesen angesehen. Das Bedürfnis nach modernen Konsumgütern und Status-Symbolen war riesig: Neuwagen, Handys und Kreditkarten - in kaum einem anderen Land der EU wurden in dem letzten Jahrzehnt derart hohe Wachstumszahlen erzielt. Die krasse soziale Ungleichheit wurde dadurch nicht entschärft, sondern wie mit einem Fahrstuhl in eine neue Zeit gebracht: Alle fuhren ein Stockwerk nach oben, während innerhalb der Gesellschaft die sozialen Unterschiede unverändert blieben.

Heute gilt das einstige Armenhaus als vorbildlich in Europa. Portugal hat die Maastricht-Kriterien prima gemeistert, im EU-Vergleich ist der Staatshaushalt solide, die Wachstumsrate hoch, die Arbeitslosenquote gering. Und für die zahlreichen Immigranten aus Angola, Mosambik und Capo Verde werden jetzt die Maßstäbe von Schengen angelegt.

Der Anschluß an die Moderne scheint geglückt. Portugal hat die Nase wieder vorn, jetzt als Mitglied der EU, als westlicher Rand der neuen europäischen Weltmacht. Und darauf ist man wieder stolz zwischen Algarve und Douro. Das zeigt sich auch in den Prestige-Objekten. Die neue Lissaboner Brücke über den Tejo, aus EU-Mitteln finanziert, pünktlich zur Weltausstellung eröffnet und als Symbol für die Verbindung mit Europa gefeiert, trägt einen alten Namen: Vasco da Gama - der Mann, mit dessen Entdeckungen das Zeitalter des europäischen Imperialismus seinen Anfang nahm.