Primetime für Alternative

Die Flaute auf dem Immobilienmarkt in Leipzig sorgt dafür, daß die Besetzerszene zu einem alternativen Wohn- und Kulturzentrum kommt

Ein großes Spektakel soll es werden: Konzerte, Flohmarkt, Workshops stehen auf dem Programm, wenn am Wochenende das Projekt Gießerstraße 16 im Leipziger Stadtteil Plagwitz eingeweiht wird. Auf dem 3 000 Quadratmeter großen brachliegenden Werksgelände ist fast alles geplant, was zu einem libertär orientierten Wohn- und Kulturprojekt dazugehört: Probe- und Veranstaltungsräume, Wohngruppen, Recyclinghof und Werkstätten.

Das Grundstück stellt die Stadtverwaltung kostenlos zur Verfügung - und das macht stutzig, zumal sich die Aktivisten und Aktivistinnen des Projekts in ihrer künftigen Insel nicht einfach gemütlich einrichten wollen. "Es geht uns nicht nur darum, selbstorganisierte und herrschaftsfreie Räume zu schaffen", sagt Maya Schmidt. "Wir wollen diese Ansätze nach außen vermitteln und in eine Wechselwirkung mit der Umgebung treten."

Der Plan klingt ungewöhnlich: Die Stadtverwaltung überläßt dem gemeinnützigen Verein für Stadtteilförderung, Wohnen und Kultur e.V., dem offiziellen Träger des Projekts, das Grundstück zunächst für ein Jahr. Betriebs- und Versicherungskosten muß der Verein tragen. Außerdem soll er dafür Sorge tragen, daß das Gelände instandgesetzt wird. Und wenn alles gut geht, wird dann nach der einjährigen Probezeit über einen langfristigen Pacht- oder Mietvertrag verhandelt. Gefördert wird das Projekt durch ABM-Stellen.

Wer hat jetzt wen: Die Stadtverwaltung die Hausbesetzer-Szene oder umgekehrt? Begonnen hatte alles schon vor einigen Jahren. Die große Besetzerzeit war auch in Leipzig vorbei. Alle besetzten Häuser waren entweder geräumt oder via Vertrag legalisiert. Das letzte besetzte und zumindest für wenige Tage bewohnte Haus wurde im Sommer 1995 geräumt.

Mit dem Ziel, durch weitere Besetzungen langfristig zu einem legalisierten alternativen Zentrum zu kommen, wurde dann im April 1997 eine Villa auserkoren. Doch selbst eine Kunstperformance half nicht weiter: Auch dieses Haus wurde geräumt. Es folgten weitere Aktionen. So beispielsweise die "Innenstadtaktionswoche Öffentliches Wohnen" im Februar 1998. Auch wenn die Szene dann bei den 1. Weltfestspielen der HausbesetzerInnen im April die "Leipziger Linie", nach der keine Neubesetzungen geduldet werden, nicht durchbrechen konnte, gab es bei den Parteien Bewegung. Schließlich war gerade Wahlkampf um den Posten des Oberbürgermeisters. Und so ließ der damalige Jugenddezernent und heutige OB Wolfgang Tiefensee (SPD) wissen, "daß die 'Leipziger Linie' nicht nur bedeutet, innerhalb von 24 Stunden zu räumen, sondern auch, den Jugendlichen einen Ersatz anzubieten".

Die "Jugendlichen" nahmen ihn beim Wort und forderten die Einberufung eines öffentlichen Runden Tisches. Allein die Drohung genügte: Kurz darauf stellte die Stadtverwaltung das Gelände in der Gießerstraße 16 zur Verfügung. Man wolle eine "Alternative zum Häuserbesetzen schaffen", erklärt Anette Ehlers vom Grundstücksverkehrsamt der Jungle World. "Es geht darum, jungen Leuten Grundstücke mit eingefallenen Werkshallen, die ansonsten nicht gut vermarktbar sind, für ein Wohn- und Kulturprojekt zur Verfügung zu stellen." Noch eine weitere Hoffnung verbindet die Behördensprecherin mit den neuen Bewohnern und Bewohnerinnen des Geländes: "Vielleicht ist diese Gruppe auch eine Alternative zur ansonsten eher rechtslastigen Jugendszene, die das eine oder andere abfangen kann." Eines steht jedenfalls außer Frage: So günstig bekommt die Stadtverwaltung kein Kulturprojekt geliefert. Und in Plagwitz sind Jugendprojekte Mangelware.

Leipzig kommt? Ende vergangenen Jahres überraschte die Stadtverwaltung mit dem Projekt "Neue Gründerzeit". Dies sieht unter anderem vor, in einem Pilotprojekt 40 vom Abriß bedrohte Altbauten zu stark reduzierten Preisen an "Selbstnutzer-Gruppen" zu verkaufen. Bedingung: Diese Gruppen, seien es Familien oder Autonome, sollen sich verpflichten, das Gebäude zu erneuern und zudem garantieren, das neuerworbene Eigentum für längere Zeit zu behalten. Je länger, desto billiger der Kaufpreis.

Zukunftsprognosen über die Immobilien- und Einwohnerentwicklung hatten im Rathaus offensichtlich die Alarmglocken klingeln lassen. Laut einer von der Stadtverwaltung in Auftrag gegebenen Studie steht 4 000 Leipziger Gründerbauten der Abriß bevor, wenn nicht bald renoviert wird. Zudem liefen Ende 1998 die Steuervergünstigungen für Kapitalanleger aus, Investoren machen sich seitdem rar. Noch stärker beschäftigt die Stadt jedoch eine ganz andere Frage: Wer soll in diesen Häusern wohnen? Denn Leipzig droht zur Geisterstadt zu werden. Allein zwischen 1991 und 1997 verlor die Messestadt 70 000 Einwohner und Einwohnerinnen. Der Wegzug ins Umland hält an, die Studie prognostiziert eine ähnliche Zahl für die kommenden Jahre. Zur Zeit stehen 42 000 Wohnungen leer, Tendenz steigend.

So mag plausibel erscheinen, warum die Stadtverwaltung ihre Ruinen an Gruppen losschlagen will, die diese auf eigene Rechnung renovieren. Dennoch bleiben, was das Projekt in der Gießerstraße betrifft, einige Fragezeichen. Das Gebäude liegt im Herzen eines der drei Expo 2000-Gelände, mit denen sich Leipzig im kommenden Jahr als "Stadt der Unternehmenden" in Szene setzen will. Unter der Vorgabe "Revitalisierung eines ehemaligen Industriebezirks" wurden dort alte Industriebauten großflächig abgerissen, um einem Business-Innovations-Center für Biotechnologie, einem Stadtteilpark und einem Parkhaus zu weichen. Ein weiteres Gründer- und Gewerbezentrum für Jungunternehmen ist im Bau.

Auch das Gebäude in der Gießerstraße 16 sollte ursprünglich der Expo weichen. Nun entsteht dort ein alternatives Projekt, obwohl auch die Stadtverwaltung weiß, daß die Jugendlichen im Umfeld des Vereins die Expo 2000 nicht gerade befürworten. Dennoch ist man im Rathaus zuversichtlich: Bis zum Beginn der Großausstellung sollen die Nutzer und Nutzerinnen des Geländes die Fassade saniert haben.

Offenbar gibt es in Plagwitz andere Probleme, die den Stadtoberen weitaus mehr Sorgen bereiten. Im angrenzenden Neubauviertel Grünau dominiert die rechte Jugendszene, im Jugendclub Treff 2 im Grünauer Kirschberghaus konnte die NPD und deren Jugendorganisation JN bis vor kurzem ihren Nachwuchs rekrutieren. Nach monatelangem starkem öffentlichem Druck von Antifas wurde der speziell für Rechte konzipierte Club nun vorübergehend geschlossen. Demnächst aber soll er "mit einem neuen Konzept" wiedereröffnet werden.

Das nahegelegene Plagwitz betrachten die Nazis als ihr Einzugsgebiet. Der linke Club "Plaque", gegenüber der Gießerstraße 16 gelegen, bekam dies zuletzt im Januar zu spüren. Über 30 zum Teil vermummte Neonazis überfielen, mit Eisenstangen, Leuchtspurmunition und Steinen bewaffnet, nachts das Haus und verwüsteten das Erdgeschoß. Als die Polizei anrückte, gaben sie den Versuch auf, in den Wohnbereich vorzudringen und ergriffen die Flucht. Durch die Gießerstraße 16 steht das "Plaque" in Zukunft nicht mehr alleine. Aber nicht nur Verteidigung steht auf dem Programm. Maya Schmidt: "Wir wollen auch eine Alternative zur rechten Jugendkultur bieten."