Russische Seiltänze

Tschernomyrdins Vermittlungsversuch im Jugoslawien-Krieg war ohne greifbare Ergebnisse. Jelzins Macht schwindet

Der Nato-Krieg gegen Jugoslawien bringt die Verhältnisse in Rußland zum Tanzen. Außenpolitisch versucht der russische Staat, sich in eine Mittlerposition zu manövrieren, ohne zu scharfe Kritik an der Nato zu formulieren und damit westliche Kredite aufs Spiel zu setzen; innenpolitisch wächst der Druck von Nationalisten und Kommunisten auf den angeschlagenen Präsidenten Boris Jelzin weiter.

Für den russischen Balkanvermittler Wiktor Tschernomyrdin war die vergangene Woche wenig erfolgversprechend. Am Samstag erklärte er, er sei von den Nato-Staaten eingeladen worden, um über seine Vorschläge zur Beendigung der Kosovo-Krise zu diskutieren. "Praktisch alle Führer der Nato-Länder haben ihr Einverständnis zu einem solchen Treffen über die Beilegung des Balkankonflikts gegeben", sagte Tschernomyrdin. Und insbesondere erwähnte er Gerhard Schröder.

Am Donnerstag vergangener Woche hatte Tschernomyrdin sich zu Verhandlungen mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic getroffen. Darauf erklärte er, ihm sei ein Durchbruch gelungen. Belgrad sei bereit, eine internationale Präsenz unter Führung der Uno und unter Beteiligung Rußlands im Kosovo zu erlauben. Das hatte Rußlands Präsident Boris Jelzin bereits am Montag zuvor von Jugoslawien gefordert. Unklar blieb bei der von Tschernomyrdin mit Milosevic abgestimmten Mitteilung, ob bewaffnete Truppen im Kosovo stationiert werden dürften.

Der Nato ging das nicht weit genug, sie bombte munter weiter. Schließlich müsse Belgrad erst seine Armee aus dem Kosovo abziehen und die Rückkehr der Flüchtlinge unter dem Schutz einer internationalen Truppe erlauben, bevor das Bombardement eingestellt werde, so die Nato-Position. Am Freitag präzisierte ein Mitarbeiter Tschernomyrdins: Es sei nicht unbedingt von einer Stationierung bewaffneter Soldaten im Kosovo die Rede gewesen, sondern von Leuten, die Militäruniform trügen und lediglich mit Pistolen bewaffnet seien.

Am Sonntag kam dann allerdings eine kalte Dusche für Tschernomyrdin. Nato-Generalsekretär Javier Solana erklärte, er wisse nichts von den Kontakten des russischen Balkanbeauftragten. Nato-Sprecher Jamie Shea meinte beschwichtigend, das Bündnis begrüße die Vermittlung Tschernomyrdins und wolle weiterhin mit Rußland zusammenarbeiten.

Was das bedeutet, ist momentan unklar. Rußland soll nach dem Willen der Nato nicht vollständig vergrätzt werden. Zugleich aber plant die Nato, Jugoslawien den Ölhahn abzudrehen und Öltanker "zu be- und durchsuchen". Ein Konflikt mit Rußland, das vor Beginn der Luftschläge der größte Exporteur von Öl nach Jugoslawien war, wäre damit programmiert.

Das bringt Tschernomyrdins Auffassung, Rußland solle eine "Schlüsselrolle" als Vermittler zwischen Jugoslawien, seiner kosovo-albanischen Minderheit und der Nato spielen, noch zusätzlich durcheinander. "Die Blockade (-Idee) ist schlecht", zitierten ihn russische Nachrichtenagenturen. Dabei hatte Jelzin mit der Ernennung des prowestlichen Ex-Premiers zum Kosovo-Sonderbeauftragten Mitte April schon einen leichten Kurswechsel in der Jugoslawien-Politik eingeleitet und Premier Jewgeni Primakow und dem Außenministerium die Initiative in der Balkanpolitik genommen. Primakows Jugoslawien-Mission Ende März war ergebnislos geblieben, und mit Jelzins Äußerung, Primakow sei "auf der jetzigen Etappe nützlich, weiter wird man sehen", war der Machtkampf zwischen Präsident und Premier offensichtlich geworden.

Primakow genießt Sympathien in der von Kommunisten und Nationalisten beherrschten Duma, und in den vergangenen Wochen hat der Nato-Krieg gegen Jugoslawien zu harschen Reaktionen gegen die Nato und insbesondere die USA geführt. Russische Militärs haben gewarnt, wenn die Nato eine Bodenoffensive gegen das Balkanland eröffnen würde, könne Rußland gezwungen sein, auf serbischer Seite zu intervenieren. Vorgeschlagen wurde auch, Jelzin könne russische Atomraketen wieder mit den Zieldaten von Nato-Ländern füttern.

Seit dem Beginn des Nato-Bombardemants auf Jugoslawien ist die Stimmung in Rußland auf dem Siedepunkt. Schon die Nato-Ost-Erweiterung zwei Wochen vor Kriegsbeginn wurde dort als Ausdehnung des Nato-Einflußgebietes und gleichzeitige Einschränkung des russischen interpretiert. Das politische und militärische Establishment sieht den Status Rußlands als Großmacht endgültig entschwinden.

Auch in der Bevölkerung brodelt es. Bei Umfragen in den vergangenen drei Wochen äußerte ein Drittel der Befragten, Amerika sei wieder ein feindlicher Staat geworden; weit weniger erwähnten die Nato oder ein anderes Nato-Mitgliedsland. Der wachsende Antiamerikanismus sei ein "gefährliches Spiel", sagte der frühere Außenminister Andrej Kosyrew. Das sei "wie Russisch-Roulette", aber "mit Nuklearwaffen".

Diese Stimmung versucht der mittlerweile höchst unpopuläre Jelzin mit Tschernomyrdins diplomatischen Vorstößen unter Kontrolle zu halten. Denn sie kommt vor allem der nationalistisch-kommunistischen Strömung zugute und könnte für die erodierende Macht des Präsidenten extrem gefährlich werden. In der vergangenen Woche scheiterte der Versuch Jelzins, den Korruptionsermittler und Generalstaatsanwalt Juri Skuratow seines Amtes zu erheben, zum zweiten Mal im Föderationsrat. Daraufhin erklärte der Gouverneur von Krasnojarsk und potentielle Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr, General Alexander Lebed, vollmundig: "Ich glaube, daß heute, am 22. April 1999, die präsidiale Macht in Rußland kollabiert ist." Nach der Abstimmungsniederlage im Föderationsrat zog sich Jelzin aus Moskau auf seinen Landsitz zurück; bis zum Wochenende sah und hörte man nichts mehr von ihm.

Dafür lancierte Tschernomyrdin, diesmal nicht in seiner Eigenschaft als Balkan-Beauftragter, sondern als Chef der Mitte-Rechts-Partei Unser Haus Rußland, am Samstag düstere Warnungen. "Das ganze System der globalen Sicherheit ist unterminiert", zitierte ihn Reuters; die Bombardierung Jugoslawiens habe zudem antiwestliche, ultranationalistische Kräfte in Rußland selbst genährt. Ohne baldige Zusammenarbeit mit anderen marktwirtschaftlich orientierten Parteien könnten die Dumawahlen später in diesem Jahr "zu einer Veränderung im politischen System Rußlands führen". Auf einer für die neoliberalen Kräfte Rußlands eher unüblichen Demonstration mit rund 1 000 Teilnehmern am Samstag in Moskau ließ der Ex-Vizepremier Jegor Gaidar eine rhetorische Salve gegen Regierungschef Primakow los. Der bringe Zensur und den Eisernen Vorhang zurück und arbeite aktiv daran, Rußland in den Krieg auf dem Balkan zu verwickeln.

Die Nerven bei den Neoliberalen scheinen blank zu liegen. Und die nationalistischen und kommunistischen Kräfte machen weiter Druck. Der kommunistische Duma-Vorsitzende Gennadi Selesnjow erklärte gegenüber der Berliner Zeitung (Montagsausgabe), Rußland werde Waffensysteme an Jugoslawien liefern, wenn die Nato-Luftangriffe anhielten oder Bodentruppen eingesetzt würden; darauf würden Duma wie Föderationsrat bestehen. Damit Banditen nicht zu frech würden, müsse man sie auch schlagen. Die Amerikaner hätten einen neuen Kalten Krieg begonnen.

Die Spitze gegen die USA kommt nicht von ungefähr: Die KP setzt auf eine engere Zusammenarbeit mit Europa - gegen die USA. Schon in einem Interview im Februar mit der Prawda hatte KP-Chef Gennadij Sjuganow unzweideutig erklärt: "Die Zukunft der Welt, die Zukunft ganz Europas - Ost wie West - und der Ausgang seines Konkurrenzkampfs mit Amerika werden nun auf dem Balkan entschieden." Zur französischen Ausgabe seines Buches "Rußland nach dem Jahr 2000: eine geopolitische Perspektive des neuen Staates" hatte der französische General a.D. Pierre-Marie Gallois, der auch schon im Umfeld der französischen "Neuen Rechten" auftauchte, das Vorwort verfaßt.

Die Nationalisten und Kommunisten Rußlands haben zudem noch einen Trumpf gegen Jelzin in der Hinterhand: das Amtsenthebungsverfahren. Die Abstimmung in der Duma darüber wurde zwar unlängst auf Mitte Mai verschoben. Aber vielleicht dauert der Nato-Krieg gegen Jugoslawien dann ja noch an.