Robin Hood andersrum

Der EU-Handelskommissar Leon Brittan will eine Jahrtausend-Verhandlungsrunde der WTO einläuten

"T.I.N.A." heißt es mal wieder, "there is no alternative" - zur Welthandelsorganisation (WTO) und zur weiteren Liberalisierung des Welthandels. EU-Außenhandelskommissar Leon Brittan reist um den Globus, um für sein neuestes Projekt zu werben: die Millennium-Runde der WTO.

Gerade erst fünf Jahre alt, wird die WTO jetzt generalüberholt: China soll so bald wie möglich aufgenommen werden, und im Herbst wollen die großen Handelsmächte eine neue umfassende Verhandlungsrunde starten. Am Ende soll die Liberalisierung jener Handelssektoren erfolgen, die bis jetzt noch nicht von der WTO erfaßt sind. Darin sind sich - jenseits aller Konkurrenz - EU und USA einig.

Die letzte Verhandlungsrunde, die sogenannte Uruguay-Runde des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), hat acht Jahre lang gedauert und brachte schließlich die WTO hervor. Jetzt soll nachgebessert werden. Im Außenwirtschaftsausschuß des Europäischen Parlaments ging kürzlich der Vorhang auf für die Millennium-Runde: Die Themen Wettbewerb, Landwirtschaft, geistiges Eigentum sowie öffentliches Auftragswesen sollen reformiert bzw. neu in die WTO integriert werden. Und die Entwicklungsländer müßten ihre Spitzenzölle senken, damit ausländische Produkte einen leichteren Marktzugang erhielten.

Erst vor kurzem scheiterte das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) am erbitterten Widerstand von kritischen Initiativen aus allen Teilen der Welt. Das hat Wirkung gezeigt. Aber da die beteiligten Regierungen, und insbesondere die Industrievertreter, vom Thema Investitionen nicht ablassen wollen, wird jetzt davon geredet, daß ein solches Abkommen auch den Umweltschutz und soziale Aspekte berücksichtigen müsse. Das "Ermächtigungsgesetz für Multis" ist also weiterhin geplant, nur sollen jetzt den skeptischen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen einige Beruhigungspillen verabreicht werden - wohl wissend, daß ein umfassendes Investitionsabkommen grundsätzlich im Widerspruch zu einer eigenständigen Entwicklung in den Ländern des Südens steht.

Schließlich brauche der Weltmarkt nicht weniger, sondern mehr Liberalisierung. Das hätte die Asien-Krise gezeigt, erklärte Kommissionsvertreter Hans-Friedrich Beseler. Die Länder, die sich am weitesten dem Weltmarkt geöffnet hätten, hätten am wenigsten unter der Krise gelitten.

Im vergangenen Jahr wurde das asiatische Bankenwesen erschüttert, Investoren haben schleunigst ihre Gelder aus der Region abgezogen. Die Krise weitete sich anschließend auf Rußland und Brasilien aus - bis heute ist die Situation nicht unter Kontrolle. Der Ruf der WTO ist daher nicht mehr der beste. Noch vor wenigen Tagen war auf den Wirtschaftsseiten europäischer Zeitungen von einem "Autoritätsverlust" und der "Demontage" der Organisation durch die Handelskriege zwischen EU und USA die Rede. Nach der - vorläufigen - Beilegung des Bananen-Streits geht es jetzt um hormonbehandeltes Rindfleisch aus den USA, welches die EU nicht einführen will, sowie um Flugzeuge mit Lärmschutzvorrichtungen. Doch gerade so, als sei nichts geschehen, loben EU und USA ihre "transatlantische Partnerschaft" und werben für weitere Liberalisierungsmaßnahmen.

Verlierer des Bananen-Streits ist zwar Europa, aber in besonderem Maße trifft es die Bananen-Erzeuger in Afrika und in der Karibik. Die EU muß den USA Strafzölle auf schottischen Kaschmir, französisches Wasser und andere beliebte Waren bezahlen. Zudem muß sie ihre Bananen-Marktordnung ändern, die die Einfuhr von Bananen aus AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) gegenüber denen aus Mittelamerika bevorzugt. Den größten Nachteil haben jedoch Jamaica, die Dominikanische Republik und die anderen karibischen AKP-Bananen-Erzeuger. Sie wissen nicht, was sie noch anbauen sollen, wenn ihre Früchte gegenüber den billigeren Dollar-Bananen von Chiquita und Dole aus Mittelamerika nicht mehr konkurrenzfähig sind.

Seit der Niederlage der EU im Bananenstreit ist die Stimmung auf den Karibikinseln so anti-amerikanisch wie selten zuvor. Die Übermacht im Norden verursacht nur Probleme. US-Fluggesellschaften forderten schon vor einiger Zeit Subventionen für Landungen auf den Inseln. Es lohne sich für sie kaum, die Kleinstaaten anzufliegen, hieß es zur Begründung. Die sonnigen Inselstaaten mußten zahlen, da sie auf die Touristen, die Devisen ins Land bringen, angewiesen sind. Als einige Länder nach kurzer Zeit die Zahlungen wieder einstellten, weil sie durch die Subventionen an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gerieten, wurden sie nicht mehr angeflogen. Ein Beispiel, wie souveräne Staaten durch Großunternehmen erpreßt werden.

Doch nicht nur die Karibik, auch Länder wie Indien, Malaysia und Ägypten sind äußerst skeptisch gegenüber den Plänen der EU und der USA, eine neue umfassende Welthandel-Verhandlungsrunde einzuläuten. Es seien noch nicht einmal alle bereits bestehenden WTO-Regeln umgesetzt, geschweige denn deren Auswirkungen untersucht - und schon sollen weitere Liberalisierungsschritte folgen?

Auch in Europa formiert sich Kritik. Bei der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament gaben sich letzte Woche prominente Freihandelsgegner und WTO-Kritiker die Klinke in die Hand. Kurz vor Ende der laufenden Europa-Legislaturperiode organisierten sie zwei Konferenzen zum Thema Handel und Entwicklung. Zum einen ging es um die Frage nach der Zukunft der Beziehungen zwischen EU und den Entwicklungsländern der AKP-Gruppe, zum anderen diskutierte man über die WTO und die geplante neue Verhandlungsrunde.

Eine Millennium Round, mit der neue Wirtschaftssektoren und Themen wie Patentierung von Lebewesen, Investitionen oder öffentliches Beschaffungswesen in die WTO aufgenommen werden, dürfe es nicht geben, meinte etwa Konferenzteilnehmer Martin Khor, Direktor des Third World Network aus Malaysia. Die Turbulenzen an den internationalen Börsen im Zusammenhang mit der Asien-Krise hätten nicht nur Staaten und deren Regierungen ins Wanken gebracht, sondern auch Menschenleben gefordert. Bevor die WTO weitere Kompetenzen erhalte, müßten erstmal die Schäden analysiert werden, die sie, insbesondere in Entwicklungsländern, angerichtet hat, so Khor.

Die WTO grundsätzlich abzulehnen, ist seiner Ansicht nach keine realistische Perspektive. Wohl aber müsse die WTO grundlegend umgestaltet werden. Jeder Staat müsse das Recht haben, seine Wirtschafts- und Investitionspolitik selber zu gestalten Die WTO sei nicht dazu legitimiert, bestimmte Politiken und Entwicklungsstrategien de facto zu verbieten.

Der Botschafter der Karibikinsel St. Lucia, Edwin Laurent, verurteilte die Freihandelspolitik von EU und USA sowie die Macht der WTO. Es sei eine erschreckende Entwicklung, wenn ein einziger Schiedsspruch des WTO-Streitschlichtungsorgans einer ganzen Region, der Karibik, die Existenzgrundlage raube, so wie im Fall der Bananen.

Laurent verglich die WTO mit einem modernen Robin Hood, der jedoch nicht von den Reichen raube und den Armen gebe, sondern umgekehrt: Ein Instrument der weltweiten Umverteilung des Reichtums von Süd nach Nord.