Stadt, Land, Pop

Auch wenn der Kurzfilm nicht in der Krise ist, blieb er in Oberhausen auf der Pop-Strecke.

"Oberhausen" würde man wahrscheinlich nur mit Hinweisschildern an der Autobahnausfahrt in Verbindung bringen, hätte dort nicht vor 31 Jahren ein sprechender Schwanz auf die Leinwand des Internationalen Kurzfilmfestes gefunden. In den sechziger Jahren rappelte es in der Kiste: Deutsche Filmemacher wollten den Film neu erfinden. 1968 dann der Eklat: Aus Protest gegen die Filmförderungspraxis lief der Provo-Schwanzfilm (letztes Jahr war er nochmal als Vorprogramm zu Schlingensiefs "120 Tage von Bottrop" zu sehen), den der Ältestenrat der Stadt absetzen wollte. Die Regisseure zogen ihre Wettbewerbsbeiträge zurück.

Oberhausen ist seitdem ein mythischer Ort, aber das setzt die Veranstalter auch unter Druck. Seit 1997 ist Lars Henrik Gass Festivalchef. Im Einstellungsgespräch ließ er die Bombe platzen: "Ich weiß nicht, was der Kurzfilm ist!" Jetzt machen Sie damit mal ein Programm. In sechs Tagen 300 oder 400 Filme.

Hartnäckig hält sich das Gerücht, daß die - gebrauchen wir das böse Wort - Poplinke hierzulande den Ton angibt, wenn's um den Trend geht. Die Herren und Damen findet man bei Jugendmusikfestspielen und in Raumschiffkongressen in der Berliner Volksbühne. Und gern schreiben sie in der Zeitschrift Spex oder im SZ-Jugendmagazin Jetzt, wo's langgeht, angefüttert mit dem Rüstzeug des Neunzigerjahretheoriemülls und immer, als hätte man gerade die kopernikanische Wende entdeckt.

Nun gibt es aber vielleicht nix Neues mehr zu entdecken, außer, ja, die neue Mitte. In Oberhausen steht ein ganzer Stadtteil, der so heißt. Und mittendrin, das Centro, die biggest Shopping Mall in Europa! Symbol, Symbol. Natürlich, Stadt: Weil wir meist in Städten leben, liegt es eigentlich nahe, sie zu inszenieren und sich selbst am besten gleich mit. In Städten leben auch amerikanische Jugendliche, und einige von ihnen machen sich das seit Jahren zunutze - im HipHop. Und weil alles irgendwie zusammengehört, waren auch in Oberhausen die Säulen des Filmfestes alsbald gefunden: Stadt als Territorium und Pop als Medium.

Pop aber als Pop-Video bitte: Denn wenn die Zuschauer nur Musik zu hören bekommen hätten und ansonsten das Kino duster gewesen wäre - da hätte man wohl laut "Murr" gesagt wie weiland 1968. So aber konnte man dieses Jahr die Verleihung des ersten deutschen Musikvideo-Preises erleben, für den hatte die Oberhausener Stadtsparkasse 10 000 Mark bereitgestellt.

Thema Stadt, Land, Fluß: Zu Territorialisierungen neigt man, wenn einem sonst nichts mehr einfallen mag. Aber wie auch? Der Sozialismus ist zusammengebrochen, und so fixiert man die diffusen politischen Träume in ebenso diffusen Räumen wie der Innenstadt. Oder auch ganz banal an jenes Bremer Filmsymposion 1997, in dem gestandene Filmwissenschaftler "Stadt" als wichtige Gestaltungsoption des Kinos entdeckten - potztausend, ging ein Raunen durch den Saal, in Filmen gibt es Städte zu sehen. Anschließend feierte man Fritz Langs "Metropolis" als die Offenbarung dieses Jahrzehnts.

In Oberhausen summierte man die Bilder ebenfalls unter "Stadt", nur das Material war vermeintlich schneller: der Kurzfilm. Der sei gar nicht in der Krise, befand Gass. Aber so richtig konnte das Festival diese These nicht stützen. Die gezeigte Kurzware war meist ein Stück zu lang. Gerade im deutschen Wettbewerb, motzten Filmprofis, habe man den Eindruck, Kurzfilm sei das Medium höherer Töchter und Söhne, die mit der Kamera und ein paar Tausendern losziehen, um aller Welt mitzuteilen: Ey du, ich mach' einen Film. Die Ergebnisse seien langweilig, die erzählerischen Mittel dürftig (identitätssuchende Frauen zünden sich natürlich eine Zigarette nach der andern an usw.). Dem anwesenden Fachpublikum ging der Arsch auf Grundeis: Warum gibt's keine politischen Filme, wo sind die sozialen Themen, Scheiß-Ästhetisierung.

"Nicht das Festival ist schlecht, es gab keine anderen Einsendungen", konstatierte Gass; es fehle zwar nicht am Handwerk, aber an den Ideen, hieß es in einer der zahlreichen Podiumsrunden. "Früher zogen die Leute los und drehten spontan einen Film. Wo sind die Statements zum Krieg?" Aber wehe, wenn mal einer einen Gag reißt: Der Versuch, einen Porno von James Herbert während der Vorführung zu fotografieren (mit Blitzlicht), wurde mit der Androhung härtester Sanktionen ("You will be excluded!") quittiert. Vielleicht aber wären Herberts Filme zuallererst to be excluded gewesen, denn Herbert, das ist ein Regisseur wie die Nato: nicht wissen, wie aufhören.

Da nützte es wenig, daß manchmal Erfrischungen dargereicht wurden: Eine stinknormale Reportage über abgewickelte Ossis der Buna zum Beispiel, oder ein Stummfilm über die Frankfurter Kirmes unter dem Eindruck des grassierenden Rechtsradikalismus. Der Streifen stammt allerdings aus dem Jahre 1932. Und da wirkt, im Vergleich zu den Bildergüssen unserer Filmstudenten, jede gezeigte Eistüte politisch.

Aber es kam noch verwickelter. Da war ja noch die Popstrecke. Man wolle "an der Auflösung der Trennung zwischen Hoch- und Popkultur" wirken (Gass) - leider nun wirklich ein Ladenhüter.

Ein Problem ist es aber, wenn man die Unterscheidung aufhebt, um sich darin, frei nach Hegel, auf der nächsten Ebene wieder einzunisten. Und wer könnte das besser als zwei Spex-Veteranen, denen "Dialektik" sehr wahrscheinlich eine HipHop-Combo aus Emden ist? Ralph Christoph und Olaf Karnik hatten die zu beurteilenden Videos auf die Anzahl 30 runtergeguckt, damit sich die aus "renommierten Journalisten" und anderen zusammengesetzte Jury nicht die Augen aus dem Kopf sehen mußte. Das Verfahren der Auswahl: Nicht während des Festes, sondern zu Hause vor dem Videorecorder wurde kritikastert und prämiert. Der Sieger wurde vor dem Festival ermittelt, in Oberhausen liefen dann "die elf besten deutschen Videos".

Von anerkannten Experten prämiert! Jury-Mitglied Julia Dörner, Journalistin: "Da bin ich leider keine Spezialistin!" Pinky Rose, Süddeutsche Zeitung: "Ich hab Nullahnung von Videos, da haben mir meine Kinder geholfen." Ja, Mensch. Immerhin hatte Thomas Groß von der taz was parat, er habe das Anschauen der Clips als "unnatürliche Situation" empfunden. "Ganz konzentriert" habe er anschauen müssen, was sonst auf Viva und MTV vor sich hin blubbert. Da gehe man dann nach klassischen ästhetischen Kategorien vor, plauderte er aus dem Nähkästchen des professionellen Bewerters populärer Unterhaltung - Sehgewohnheiten, Länge, handwerkliches Können ...

Videos schauen also ganz wie bei Kunstprofessors und nicht wie sonst in Unterhose und Adiletten, Chips und Dosenbier in Reichweite. Und der charmante Musikjournalist Kodwo Eshun fand dann richtig lobende Worte: Deutsche Videos seien "romantic" - das Publikum schmolz dahin. Man sah gemeinsam Blumfelds Distelmeyer den Explosiv-Mimen Helmut Berger besingen - tausend Tränen trief -, wer hätte da nicht ein Wässerchen im Auge gehabt, Eshun total recht gegeben und anschließend mit Thomas Groß klassische ästhetische Kategorien angelegt?

Dann legte DJ Hell mit seinem "Suicide Commando" Barschel nochmal in die Badewanne - super. Und als die Stinklangeweiler Kinderzimmer Productions mit ihren ungewaschenen Schmuddel-Rastazöpfen sowie die unvermeidlichen Goldenen Zitronen auch noch überstanden waren, kam Testsieger Sensorama. Mit einem Video, in dem Garagentore den Bump machen.

Schön. Vor allem schön sinnlos. Doch ließ man sich nicht abhalten, dem Musikvideo einen Haufen mehr Politik und Soziales zu unterstellen als gewöhnlichen Kurzfilmen. Pop ist eben Pop und Politik. Und auf der großen Leinwand kamen sie ja auch gut und die aufgedrehten Stereoboxen sorgten für Rockpalast-Atmo ("lauter!"). Dann wurde diskutiert. Und einigen mag geschwant haben, daß hier vor allem die Konkurrenz zum Kinderfilmblock gelaufen sein mußte - wenigstens die Zielgruppe ist dieselbe.

Aber das will sich der Pop-Mann niemals eingestehen! Kunst, verdammt und zugenäht - im Wettbewerb waren nur Videos vertreten, die nachts um vier auf MTV laufen. Denn daß Pop auch Kulturfutter für 14jährige ist und nicht immer nur für den studierten Mittvierziger, geht in den Kopf einfach nicht rein. Jugendkultur ist für alle immer und überall und ganz besonders nur für uns, so heißt's beim Theoriecocktail mit Schulterabklatschen. Jugend ist - für Erwachsene. Britney Spears also durfte ihr Speckbäuchlein nicht kreisen lassen. Deren Video diene ja "nur dem Verkauf". - Verkauf? "Wir müssen den Musikern unsere Treatments kostenlos anbieten", protestierte Videoregisseur Michael Klöfkorn gegen gängiges Geschäftsgebaren, das sei eine Sauerei.

Immer in Vorleistung treten ist das Schicksal der Scheinselbständigen. Auch zum Verkauf stand der Videopreis mit seiner Trennung Kunst und Schund - da war sie, die Dialektik - als revolutionäre Tat. Pop - der neue Gesellschaftsvertrag für die neue Mitte. Und ein Revolutionär, da waren sich alle einig, ist der Journalist Michael Althen. Der rezensiert in Jetzt Videos - "das macht kein anderer in Deutschland!" Das glauben wir gern, daß aber auch nirgendwo mal einer was über Videos schreibt, außer in Jetzt. Diedrich Diederichsen, Pop-Papst, schreiten Sie ein: Die Übergeschnappten haben nicht eines Ihrer Bücher gelesen!

Anders als Groß, Eshun und Gass laberte sich hier mancher um Kopf und Kragen. Da mußte nicht erst noch Dirk Scheuring kommen, der HipHop-Videos der letzten 17 Jahre zusammengestellt hatte: Einer, der nicht reden kann, spricht zu Leuten, die's an den Ohren haben. Sexismus im HipHop sei doch okay, weil in der Rockmusik auch schon alle Sexisten waren. Wenn das Queen Latifah mitkriegt, gibt's beim nächsten New York-Trip aber einen Satz heiße Ohren. Wer's nicht glauben will, möge doch bitte be excluded. Eine Rapperin fand sich wie selbstverständlich schon gar nicht unter dem repräsentativen US-Rapper-Palaver, dem seit Run DMC der Humor ausgegangen sein muß, damit sich in Deutschland Tausende Studienabbruch-Nerds daran abarbeiten.

Genug geschimpft über die Filme zum Thema Stadt und Pop. Oberhausen hat es schwer, zumal heute jedes Dorf ein Filmfest hat. Völlig zu Unrecht sind hier die Perlen vernachlässigt worden, wie etwa Matthias Pachts Vierminuten-Epos "Dinner", Zitat aus dem Katalog: "Eine eigensinnige Wurst hat sich ihr Dasein eigentlich ganz anders vorgestellt. Als sie auf dem Teller liegt, wird ihr schlagartig klar, daß ihr Ende naht. Da wird die Wurst zum Tier."

Wenn es Regisseure gibt, die sich vorstellen können, was eine eigensinnige Wurst ist und man im Abspann erfährt, der Film sei powered by Metzgerei Gruber, dann ist die Welt doch eigentlich ganz in Ordnung. Und hätte man den wunderbaren Film "Echte Männer tragen keine Badehosen" von Jennifer Keagan, einer Vogue-Journalistin, über eine Gruppe schwimmender alter Männer und Frauen als Sozial-Pop verbrämt, wäre vielleicht ein Preis dringewesen.

Die vielen, die sich da beschwert haben, müssen ihre Ansprüche wohl etwas niedriger ansiedeln. Und den steinreichen Filmprofessoren, die sich im Lokalradio über ihre unfähigen Studis aufregten, noch ein Tip mit auf den Weg: Einfach Filmhochschulen schließen, Fördergelder einfrieren. Wer dann noch übrigbleibt, dem geht's wirklich um Film und Wurst.

Und wenn die Oberhausener Stadtsparkasse dann noch 10 000 Mark für das beste Musikvideo ohne Musik bereitstellt, hat auch der Kurzfilm wieder eine Chance.