Die Bodentruppen der Kritik

Mit seiner Verteidigung des Nato-Angriffs auf Jugoslawien empfiehlt sich Jürgen Habermas als Pressesprecher einer künftigen Weltbürgergesellschaft.

Die Kommunikation hat der Frankfurter Professor Jürgen Habermas schon immer gemocht. Sie ist dem "einzigen deutschen Philosophen von Weltrang" (taz) nicht nur bevorzugter Gegenstand der Theorie, auch die kommunikative Praxis hat er nie vernachlässigt. Anfang Oktober 1998 begrüßte Habermas den politischen Wechsel hin zu Rot-Grün, ausdrücklich lobte er in diesem Zusammenhang den neuen Außenminister: "Der europapolitische Stabwechsel von Kohl zu Fischer ist ein Glücksfall." Vorvergangene Woche verteidigte Habermas in einem voluminösen Aufsatz in der Zeit den Nato-Angriff auf Jugoslawien. Das ist das vorläufige Ende einer längeren Geschichte, die in den sechziger Jahren begann.

Als Habermas 1964 in Frankfurt als Nachfolger Max Horkheimers den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie übernahm, herrschte in großen Teilen des linken, überwiegend im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierten akademischen Nachwuchses die freudige Gewißheit vor, mit Habermas werde die Kritische Theorie ihre Distanz zur tagespolitischen Aktualität aufgeben und zum Werkzeug im Kampf gegen die Autoritäten. Diese Erwartungen enttäuschte der Professor vollständig: Die Studentenbewegung konfrontierte er mit dem Vorwurf der "Scheinrevolution", da "jedes, aber auch jedes bisher allgemein akzeptierte Anzeichen für eine revolutionäre Lage" fehle. Für Habermas bestand die "allein gebotene Strategie massenhafter Aufklärung" in der Kooperation mit Gruppen, die über "privilegierte Einflußchancen" verfügen.

Unter den gegebenen Bedingungen sei Fortschritt nicht durch Umsturz, sondern durch (kritisches) Mitmachen zu erreichen. Seine Veröffentlichungen beschäftigten sich vorzugsweise mit dem Problem der Legitimation staatlicher Herrschaft und der hierzu notwendigen "Konsensbeschaffung" zwischen den Institutionen und den Bürgern. Eine entsprechende "philosophische Ethik" sei "heute nur noch zu haben, wenn es gelingt, allgemeine kommunikative Voraussetzungen und Verfahren der Rechtfertigung von Normen und Werten nachzukonstruieren".

Wohlgemerkt: Im Mittelpunkt dieses Programms standen nicht die sozialen Inhalte und Implikationen von Recht und Moral, sondern die Merkmale ihres demokratischen und formal korrekten Zustandekommens. Die "Beschaffung generalisierter Zustimmungsbereitschaft" müsse deshalb Überforderungen und Zumutungen vermeiden, die mit dem in den menschlichen "Persönlichkeitsstrukturen" angelegten Bedürfnis nach "identitätsverbürgenden Deutungssystemen" kollidieren. Die "Kommunikation über Wertorientierungen, Ziele, Normen und Tatsachen", so Habermas Ende 1989 in einem Interview mit der Zeitschrift Sinn und Form, "bildet eben auch eine Ressource der gesellschaftlichen Integration."

In diesem Sinne ist Kommunikation bei Habermas nahezu ausschließlich als konsensfixierte Verständigung definiert, die eine erfolgreiche Vermittlung zwischen der "Lebenswelt" der Individuen und der Sphäre der Institutionen der staatlichen Gewalten bewerkstelligt. "Eine politische Kommunikation, die den Verständigungsressourcen der Lebenwelt entspringt und nicht durch verstaatlichte Parteien erst hergestellt wird, muß die Grenzen der Lebenswelt schützen und deren Imperativen, also den gebrauchswertorientierten Forderungen, Nachdruck verschaffen."

Damit liefert Habermas' wissenschaftliche Botschaft die Begleitmusik zu einem Prozeß, der sozialliberale und grüne Vernunft im Projekt der Neuen Mitte zusammengebracht hat. Die von Habermas favorisierte Kommunikation über Recht und Moral sowie die dazugehörige Mechanik einer politischen Teilhabe sind - zumal in ihren früheren Versionen - die akademische Abstraktion des Marsches durch die Institutionen, zu dem große Teile der linken Intelligenz Anfang der siebziger Jahre aufbrachen. Das Plädoyer für eine interaktive Koexistenz zwischen bürokratisierten Machtapparaten und individueller Skepsis erweiterte Habermas ziemlich pünktlich mit der Etablierung grüner Organisationsformen.

Die Akzentuierung der "Lebenswelt" war das Pendant der auf Basisdemokratie, Selbstorganisation und Autonomie gepolten sozialen Bewegungen, deren Potentiale Habermas elegant zu einem großen Ganzen fügt: "In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, müssen die rechtlich institutionalisierten, die 'verfaßten' politischen Willensbildungsprozesse rückgekoppelt sein an (und porös bleiben für) eine nicht verfaßte, möglichst argumentativ gesteuerte Meinungsbildung. Dazu bedürfte es eines Netzes freier Assoziationen unterhalb der Organisationsebene verstaatlichter Parteien, vermachteter Medien, abhängiger Interessensverbände usw."

So lassen sich Habermas' Erkenntnisse rückblickend als affirmative Beschreibung einer gelungenen gesellschaftlichen Integration im nationalen Kontext lesen, die zur Respektierung rechtlicher und moralischer Maßstäbe auf die Kraft der Identifikation setzte - wobei letzteres insbesondere im Historikerstreit deutlich wurde. In seiner Attacke gegen Ernst Nolte, der "nationale Identität" unter Berufung auf die deutsche Geschichte und damit unter Relativierung der Auschwitz-Verbrechen rekonstruieren wollte, berief sich Habermas auf ein von "Verfassungspatriotismus" unterfüttertes Nationalbewußtsein: Die Identifikation mit der eigenen Überlieferung werde überlagert von einem "abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze einer Nation, sondern auf abstrakte Verfahren und Prinzipien bezieht".

Diese abstrakten Verfahren und Prinzipien, "das positive Recht als eine funktional notwendige Ergänzung" einer aufs "subjektive Gewissen" bezogenen Moral, verteidigte Habermas gegen die Kohl-Regierung während der neunziger Jahre. In der Diskussion um Lauschangriff, Asylrecht, Blauhelmeinsätze kritisierte er 1993 den "Opportunismus" einer Politik, der "jede Empfindlichkeit für den normativen Eigensinn von Rechtsgrundsätzen abgeht". Mit jeder "neuen Verfassungsänderung" werde die "normative Substanz der Verfassung weiter ausgetrocknet".

Mit dem energischen Ausgreifen der deutschen Außenpolitik im Zusammenhang der Europäischen Union und der Diskussion um Militäreinsätze gelangte Habermas Mitte der neunziger Jahre zu der Einsicht, daß sein wissenschaftliches Credo um eine internationale Dimension zu erweitern sei. In Analogie zur Konstruktion des Einzelstaates griff er den Gedanken einer "Weltbürgergesellschaft" auf, konnte aber die Frage nicht klären, wie dort die zentrale identitätsstiftende Potenz des Nationalstaates zu ersetzen sei. Diese stellte er vor als "Idee von gesinnungsbildender Kraft, die (...) an Herz und Gemüt appelliert" und deshalb vermocht hätte, die soziale Integration zu bewerkstelligen.

Mit seiner Verteidigung des Nato-Angriffes auf Jugoslawien hat Habermas diese offene Frage provisorisch beantwortet und damit die Kohärenz seiner Theorie kommunikativen Handelns endgültig preisgegeben. Davon übrig bleibt die schiere Affirmation. Geschuldet ist diese Blamage nicht mangelnder wissenschaftlicher Phantasie, sondern der unhintergehbaren Tatsache, daß die Beziehung zwischen Staaten sich gänzliche von denen unterscheiden, die ein nationales Kollektiv strukturieren. "Der Nationalstaat (hat) einen Zusammenhang politischer Kommunikation gestiftet", in dem die Adressaten des Rechts auch seine Autoren wurden. Dies ist, dem früheren Habermas zufolge, die demokratische Legitimationsbasis des Rechts und der zugehörigen Sanktionen. Auf einer internationalen Ebene existiert diese Basis nicht.

"Erst wenn die Menschenrechte", schreibt Habermas jetzt in der Zeit, "in einer weltweiten demokratischen Rechtsordnung in ähnlicher Weise ihren 'Sitz' gefunden haben wie die Grundrechte in unseren nationalen Verfassungen, werden wir auch auf globaler Ebene davon ausgehen dürfen, daß sich die Adressaten dieser Rechte zugleich als deren Autoren verstehen können." Solange dies nicht der Fall ist, so Habermas, bestehe eine "Schere zwischen der Legitimität und der Effektivität der friedenssichernden und friedensschaffenden Interventionen". Trotz vielfältiger "Quellen der Beunruhigung" müsse in diesem Fall Milosevics "elende Praxis", der "möderische Ethnonationalismus", gestoppt werden.

Die Entscheidung für die Effektivität, zuungunsten der Legitimität, erhält selbstredend ihre höheren Weihen: So übten die "19 zweifellos demokratischen Staaten", die im Krieg gegen Jugoslawien vereint seien, "eine Interpretations- und Beschlußkompetenz aus, die, wenn es bereits heute mit rechten Dingen zuginge, nur unabhängigen Institutionen zustünde". Bis dahin sei eine moralisch motivierte Menschenrechtspolitik "angesichts des unterinstitutionalisierten Weltbürgerrechts zum bloßen Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand, den sie zugleich befördern will, genötigt".

In diesem Sinne könne man den "prekären Übergang von der klassischen Machtpolitik zu einem weltbürgerlichen Zustand über die Gräben eines aktuellen, auch mit Waffen ausgetragenen Konfliktes hinweg als gemeinsam zu bewältigenden Lernprozeß verstehen."

Die Stellungnahme Habermas' stieß auf Kritik. Die FAZ stellte richtig fest, Habermas setze sich über seine eigenen "prozeduralen Bedenken" gegen die Verwirklichung des Weltbürgerrechts hinweg. Der Freitag kommentierte, Habermas erwecke "den Eindruck, er könne sich auf Kant stützen (...). Die Annahme der Uno-Charta, auch Menschenrechtsverletzungen dürften nicht durch Kriege bekämpft werden, nicht einmal durch Kriege eines Staatenbundes, geht auf Kant zurück. Habermas weist sie zurück, ohne eine Begründung auch nur zu versuchen (...). Man möchte hoffen, daß er noch mehr Artikel schreibt, in deren Folge der Wechsel, denn er ist falsch, wieder rückgängig gemacht werden kann."

Auch aus dem Kommentar der taz spricht enttäuschte Liebe: "Damit unterschreitet der Philosoph der kommunikativen Vernunft entschieden die Anforderungen, die sein eigenes Werk an ihn stellen." Das kann man auch anders sehen: Als Personifizierung rot-grüner Vernunft wollte Habermas schon immer helfen, den Laden zusammenzuhalten.