Milosevics willige Vollstrecker?

Anmerkungen zu Daniel J. Goldhagens Plädoyer für eine "deutsche" Lösung auf dem Balkan.

Daniel J. Goldhagen hat Ende April in der Süddeutschen Zeitung einen Text veröffentlicht, der bei vielen, die sich mit seiner Studie über "Hitlers willige Vollstrecker" auseinandergesetzt und sie öffentlich verteidigt haben, auf scharfe Kritik gestoßen ist. Diese gilt weniger der generellen Position, die er im Jugoslawien-Krieg bezieht, sondern dem von ihm gelieferten Begründungszusammenhang, mit dem er Parallelen zwischen Jugoslawien und dem nationalsozialistischen Deutschland herzustellen sucht.

Der leicht gekürzte Text von Matthias Küntzel basiert auf dessen Beitrag für den von der Heinrich Böll-Stiftung veranstalteten Kongreß "Die 'Goldhagen-Debatte': Bilanz und Perspektiven". Küntzel ist Mitherausgeber des 1997 erschienenen Sammelbandes "Goldhagen und die deutsche Linke". Die Diskussion wird fortgesetzt. (Red.)

Goldhagens Text ist keine Analyse, sondern eine publizistische Intervention, die das Ziel verfolgt, den Fortgang dieses Krieges zu beeinflussen. Goldhagen will verhindern, daß der Krieg auf der Basis politischer Verhandlungen beendet wird. Er wirft der Nato vor, bisher "kaum mehr getan" zu haben, "als fromme Worte und unwirksame Bomben einzusetzen, während die Serben weitermordeten".

Er ruft das Nato-Bündnis also auf, den Krieg bis zum Eroberungssieg zu führen: "Um das Völkermorden zu beenden, muß die Nato Serbien besiegen, besetzen und umerziehen." Goldhagen räumt ein, daß für die Realisierung dieses Vorschlags ein hoher Preis an Menschenleben und Material zu entrichten sei, weshalb "die Schwelle für eine solche Intervention (...) sehr hoch sein (sollte). Ein vernünftiger Maßstab", schreibt er weiter, "wurde 1945 definiert".

Mit "vernünftiger Maßstab" ist das nationalsozialistische Deutschland gemeint. Goldhagens Plädoyer für die größte denkbare Eskalation des Nato-Kriegs stützt sich folglich auf die Behauptung, daß die serbische Politik mit der nationalsozialistischen Politik in vielen Punkten vergleichbar sei. Die breite Bevölkerungsmehrheit in Serbien gehorche "einer Ideologie, welche die Eroberung von Lebensraum und die Vernichtung angeblicher Feinde" fordere. Auch hinsichtlich der von den Deutschen und den Serben begangenen Verbrechen sieht Goldhagen keinen qualitativen Unterschied: "Die serbischen Schreckenstaten unterscheiden sich von denen der Nazis grundsätzlich nur durch die geringeren Dimensionen."

Wenn die Menschen also akzeptieren, so seine Schlußfolgerung, "daß es moralisch korrekt und auch klug war, Deutschland zu besetzen und umzugestalten, müssen sie folgerichtig einen ähnlichen Kurs für das Serbien des Jahres 1999 unterstützen".

Goldhagen argumentiert vollständig unhistorisch, indem er die politischen und ökonomischen Voraussetzungen der Krise ignoriert. Die Frage, der Goldhagen sein Buch "Hitlers willige Vollstrecker" widmete - "Wie kommt es dazu?" - taucht nicht einmal schemenhaft auf. Schematisch teilt er statt dessen die "Völker" ein: Hier die unschuldigen Albaner, denen er zur Hilfe kommen will. Dort die abgrundbösen Serben, die nach einer bedingungslosen Kapitulation umerzogen werden müßten. Was aber ist mit jenen 50 000 Serben, die seit Ende 1998 aus den früher ethnisch gemischten Dörfern des Kosovo vertrieben worden sind, wie es in einer Stellungnahme des State Department heißt? Was ist mit den Albanern, die von der UCK hingerichtet wurden, weil sie mit Serben weiterhin zusammenleben wollten?

Das Grundproblem auf dem Balkan ist der Nationalismus, von welcher Seite auch immer. Dieses Problem kann nur gelöst werden, wenn man den Trennungsstrich zwischen den nationalistischen Kräften und den nicht-nationalistischen Kräften - sowohl bei den Albanern als auch bei den Serben - zieht. Goldhagen aber argumentiert geradezu entgegengesetzt: Er teilt die Balkanwelt in ein gutes Volk hier und ein böses Volk dort. Dieses dichotome Bild ist Bestandteil der im Moment vorherrschenden Kriegslogik, die den Nationalismus auf allen Seiten nur verschärft.

"Die serbischen Schreckenstaten", so Goldhagen, "unterscheiden sich von denen der Nazis grundsätzlich nur durch die geringeren Dimensionen." Daraus folgt: Die Nazis haben eigentlich das gemacht, was heute die Serben machen - nur ein wenig größer dimensioniert. Dies ist sachlich falsch und verwischt vollständig die Konturen des Verbrechens, für das Auschwitz steht. Goldhagen hat mit dieser Relativierung des Holocaust seiner eigenen Studie widersprochen, in der er den Judenmord noch ausdrücklich und qualitativ "von jedem anderen Völkermord" unterscheidet.Das eigentliche Problem seines Beitrags ist weniger leicht zu erkennen. Es liegt in den spezifischen Effekten, die Goldhagens Stellungnahme für die deutsche Kosovo-Debatte haben wird oder haben kann.

Der Versuch der Deutschen, den Krieg in Jugoslawien mit Auschwitz zu legitimieren, wurde in einem Kommentar der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung als "Auschwitzkeule" bezeichnet. "Mag sein", heißt es, "daß diese Instrumentalisierung der Shoah bewußte Geschichtsfälschung ist, Kriegspropaganda eben. Schlimmer, weil naheliegender, ist aber ein anderer Verdacht: Womöglich glauben Schröder, Fischer, Scharping und die deutschen Kriegskommentatoren ihrer eigenen Rhetorik."

Das ist in der Tat zu befürchten. Und nicht nur die Kriegsminister, auch ihrem Publikum scheint gläubig zu sein. Das wahnhafte Echo im ersten Krieg, den Deutschland seit 1945 führt, hat weniger mit vorsätzlichen Lügen, als vielmehr mit der Suggestion einer Art von Vergangenheitsbewältigung zu tun. Geradezu zwanghaft wird Auschwitz auf die Serben projiziert.

Im Oktober 1998 hatte sich Martin Walser in seiner Friedenspreisrede in die Rolle eines eingeschüchterten Opfers versetzt, das kaum noch frei zu sprechen wage, weil Auschwitz als "Keule" im Raum stehe und ihn zu erschlagen drohe. In diesem Krieg aber ist Auschwitz nicht mehr die Keule, die "uns" bedroht, sondern die Waffe, mit der "wir" uns befreien, indem das unterschwellig fortwirkende Schuldgefühl aggressiv gegen das imaginierte Auschwitz des Feindes ausagiert wird. Je enthemmter man in einer Ersatzhandlung das "Auschwitz" der anderen niederschlagen und bombardieren kann, desto befreiender verspricht die Revanche zu sein.

Es bedarf eigentlich nicht der Erwähnung, daß Daniel Goldhagen mit den hier skizzierten Wahnideen nicht das Geringste zu tun hat, nicht zu tun haben kann. Anders als Ludger Volmer und Joseph Fischer hat Goldhagen in seinem Artikel Milosevic mit Hitler ausdrücklich nicht gleichgesetzt und eine Reihe weiterer Unterschiede erwähnt. Dennoch wird durch eine stringente Parallelisierung von Nationalsozialismus und Milosevic-Staat in Deutschland eine ohnehin vorhandene Disposition weiter verstärkt, die gefährlich ist und Folgen haben kann, die vermutlich keiner weniger als Goldhagen selbst sich wünscht.

Am Ende dieser wahnhaften Projektion, die die Bearbeitung unterschwelliger Schuldgefühle durch Realitätsverleugnung ersetzt, könnte passieren, wovor die Mitscherlichs in "Die Unfähigkeit zu trauern" warnten: "Die Geschichte wiederholt sich nicht, und doch verwirklicht sich in ihr ein Wiederholungszwang." In der deutschen Außenpolitik aber hat sich die Geschichte längst zurückgemeldet. Damit aber ist das zweite Motiv der Auschwitz-Beschwörung im Kontext dieses Krieges benannt.

Seltsame Bindungen der Vergangenheit beeinflussen schemenhaft die politischen Präferenzen der Gegenwart: Welche europäischen "Völker" sind bei uns bis heute wie selbstverständlich als "deutschfreundlich" markiert? All diejenigen, die die Deutschen zur Teilnahme an Vernichtungsaktionen gegen Juden animieren konnten: Litauer, Letten, Ukrainer, Kroaten und Albaner. Und welche "Völker" werden bis heute noch mit arrogantem Mißtrauen belegt? Die Russen, die Serben, die Juden - diejenigen also, die Nazideutschland bekämpften. Schon die von Deutschland 1991 isoliert vorgenommene Anerkennung Kroatiens - dem Nachfolger des faschistischen Ustascha-Staats - war eine Art Bitburg der deutschen Außenpolitik, was im Ausland seinerzeit auch aufmerksam registriert wurde.

Schon zu Beginn dieses Jahres kam in nahezu allen großen Zeitungen dieses Landes eine Lösung für das Kosovo an die Oberfläche, die in Deutschland geschichtsnotorisch ist: Die Forderung nach einem von Deutschland oder der Nato verwalteten Protektorat für das Kosovo. August Pradetto, Professor an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, stiftete schon in der ersten Woche des Kosovo-Kriegs den historischen Zusammenhang: "Der einzige Akteur im internationalen System, der das 'Recht auf humanitäre Intervention' praktisch in Anspruch nahm, war das nationalsozialistische Deutschland, und zwar bei seinem Überfall auf die Tschechoslowakei im März 1939 mit Hinweis auf sudetendeutsche Belange."

Wenn schließlich auch noch Erwähnung findet, daß nicht nur der heutige Standort der Bundeswehr in Mazedonien mit dem früheren der Wehrmacht identisch ist, sondern auch die dahin führenden Nachschubwege, und die taz gerührte Albaner vor das Mikrophon treten läßt, die daran erinnern, "daß der damals von Deutschland und Italien geschaffene albanische Staat" bis zum heutigen Stützpunkt der Bundeswehr reichte - dann wird deutlich, daß wir beim Kosovo-Krieg objektiv mit Umständen konfrontiert werden, die an eine vergangene deutsche Außenpolitik gemahnen. Daß dies ausgerechnet im links-liberalen oder rot-grünen Lager so gut wie gar nicht wahrgenommen wird, hat paradoxerweise mit der Parole des Außenministers: "Nie wieder Auschwitz!" zu tun.

Gerade weil dieser Krieg notwendig die vergangenen Angriffe Deutschlands gegen Serbien und die Tschechoslowakei in Erinnerung ruft, blocken die politisch sensibleren Teile der deutschen Gesellschaft mit dem Verweis auf Auschwitz ab. Das "serbische Auschwitz" ist die zwanghaft errichtete Kulisse, die den Blick auf die dahinterliegenden Reminiszenzen ersparen soll. Die projektive Abschiebung des Holocausts auf die Serben ist das Beruhigungsmittel, das den kritischen Blick auf deutsche Geschichte und Gegenwart zu betäuben hat.

Im politischen Lager der Konservativen ist dieses Betäubungsmittel überflüssig, da man dort die Wiederkehr von Elementen der eigenen Geschichte durchaus positiv interpretiert. Dies mag erklären, warum es gerade die ehemaligen 68er sind, die ihren Bellizismus mit Auschwitz begründen, während Konservative wie Wolfgang Schäuble warnend den Finger erheben.

Daniel Goldhagens Stellungnahme ist gerade für das dem rot-grünen Lager eher zuneigende Milieu relevant. Gänzlich ungewollt könnte sein mit der NS-Analogie argumentierender Bellizismus ein Beitrag sein, der den kritisch-selbstkritischen Blick auf die deutsche Geschichte, den sein bahnbrechendes Buch "Hitlers willige Vollstrecker" 1996 gerade ermöglicht hatte, heute zuverlässig verstellt.

Die Losung "Nie wieder Auschwitz!", die vordergründig ein selbstkritisch-aufgeklärtes Verhältnis im Umgang mit der eigenen Geschichte suggeriert, trägt in Wahrheit wirksam dazu bei, jene kritische Wahrnehmung zu blockieren. Dies aber ist die Pointe, die auch Goldhagens optimistische Einschätzung des heutigen Deutschland, wie er dies 1997 in Köln vorgetragen hat, widerlegt: Je offenkundiger sich Elemente deutscher Geschichte wiederholen, desto leidenschaftlicher wird schon die Kenntnis davon abgewehrt, indem man Auschwitz zum Gründungsmythos eines neudeutschen Sendungsbewußtseins verklärt.

Keineswegs sollen meine Hinweise auf die Sudeten-Krise von 1938 suggerieren, daß nun im Gegenzug zu Goldhagens Nazi-Zuschreibung an die Adresse der Serben von mir eine Nazi-Zuschreibung an die Adresse der Vereinigten Staaten im Sinne von: "Was Hitler 1938 vollbrachte, organisiert heute Clinton" beabsichtigt sei. Derartige Zuschreibungen lehne ich strikt ab.

Nicht zu bestreiten ist aber, daß mit dem völkischen Faktor eine ungute Kontinuität der deutschen Außenpolitik weiterhin wirksam ist. Ethnische Säuberung und völkische Politik sind zwei Seiten einer Medaille. Der Auftakt für die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan war die isolierte und bedingungslose Anerkennung von Slowenien und Kroatien durch das soeben wiedervereinigte Deutschland. Immer wieder hatte seither die deutsche Politik und Publizistik Jugoslawien als "Völkergefängnis" und als "künstliches Produkt" ohne "nationale Homogenität" kritisiert. "Originäre Völker", so eine durchaus typische Verlautbarung, dürften nicht länger in "ungewollten und widernatürlichen staatlichen Organisationen" festgehalten werden, sondern müßten sich befreien. Eben diese Verbindung von "Volk" und "natürlich" macht die völkische Tradition aus.

Damit aber sind beide spezifische Komponenten der aktuellen deutschen Kriegsführung, die sich ergänzen, benannt. Im sich progressiv dünkenden Lager dient die ins Unberechenbare gehende Berufung auf Auschwitz als handlungsleitendes Motiv. - Im sich konservativ formulierenden Lager das Festhalten am völkischen Kurs und der kosovo-albanischen Sezession.

Was immer uns die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit suggeriert: In beiden Komponenten ist die Tendenz zur Eskalation angelegt. Dies aber ist der Grund, warum Goldhagens Aktions- und Eskalationsvorschlag bis in die Einzelheiten der Formulierung von keiner Regierung in der Welt so gut "verstanden" wird wie von der deutschen. Selbstverständlich ist Goldhagen der letzte, der für die Charakteristik des deutschen Diskurses und die Traditionen der deutschen Außenpolitik verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch kann eine politische Aussage nicht unabhängig von dem Kontext, in dem sie steht, bewertet werden.

Goldhagens Warnung vor einer Verhandlungslösung entspricht einer deutschen Logik, derzufolge die üblichen "von zivilem Dialog und Konsens-Kultur" geprägten europäischen Gepflogenheiten auf den Fall Serbien ohnehin nicht anwendbar sind.

Sein Vorwurf an die Nato, im bisherigen Kampf gegen Jugoslawien zu wenig "moralisches Rückgrat" und zu wenig "politischen Mut" an den Tag gelegt zu haben, bestärkt in Deutschland jene, die immer schon die Bereitschaft der USA in Zweifel stellten, "den Willenskampf mit Milosevic bis zum Ende durchzustehen", wie die FAZ schrieb. Und am Ende liegt die Welt wieder in Trümmern?

Im Balkan hat der Erste Weltkrieg begonnen; der Zweite wurde dort brutalisiert. Nur durch entschiedene Zurückweisung des völkischen Prinzips, nur durch die Bekämpfung des Nationalismus, auf welcher Seite auch immer, nur durch Deeskalation wird dieser neue Balkan-Krieg eingedämmt werden können. Mit derselben Eindeutigkeit, mit der Goldhagens epochale Analyse des Holocaust auch weiterhin gegen die Anfeindungen derer, die nicht genau hinschauen wollen, verteidigt werden muß - mit derselben Eindeutigkeit ist sein Beitrag zum Kosovo-Krieg zurückzuweisen.