Jelena Santic

»Rambouillet war ein Diktat des Westens«

Nach der Vertreibung von über 300 000 Serben aus der kroatischen Krajina gründete Jelena Santic 1995 die Belgrader Gruppe 484, benannt nach 484 Familien, die von der kroatischen Armee aus Ostslawonien vertrieben wurden. Santic kümmerte sich auch in den Folgejahren um Flüchtlinge aus allen Teilen des früheren Jugoslawien, in Belgrad leitet sie nun ein Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge, in dem Psychologen, Pädagogen und Soziologen an einer nationen-übergreifenden Betreuung der Kriegsopfer arbeiten. Während der Balkan-Kriege zu Beginn der neunziger Jahre schloß sich die Gruppe 484 mit anderen Organisationen im Center for Anti-War-Action zusammen, um auf antinationaler Grundlage gegen den Krieg zu mobilisieren.

Mit ihren Luftangriffen hat die Nato Jugoslawien um Jahrzehnte zurückgebombt. Welche Perspektiven sehen Sie für den Wiederaufbau des Landes?

Aus eigener Kraft wird es Jugoslawien nicht schaffen, das Land wieder aufzubauen. Das weiß auch der Westen. Deshalb wird überlegt, auf welche Weise in das Land investiert werden kann. Solche Investitionen werden jedoch erst dann möglich sein, wenn der Krieg zu Ende - und eine politische Lösung gefunden ist.

Ist eine solche Lösung auch mit dem jetzigen Präsidenten Jugoslawiens, mit Slobodan Milosevic also, möglich?

Ich denke, daß dies nur sehr schwer möglich sein wird.

Auf wen setzt der Westen denn dann? Schließlich ist er mit seiner Unterstützung der sogenannten demokratischen Opposition um Politiker wie Zoran Djindjic, Vuk Draskovic oder Vesna Pesic schon vor einigen Jahren gescheitert.

In Montenegro hat Milo Djukanovic schon damit angefangen, demokratische Reformen einzuleiten. Man kann also nicht sagen, daß es die demokratische Opposition nicht mehr gäbe. Djukanovic gibt es noch - und er ist stark. Das hat er auch ohne die Hilfe, die ihm vom Westen versprochen wurde, geschafft. Aber erst wenn die Nato ihre Bombardierungen einstellt, wird es möglich sein, daß zu dem demokratischen Block, dem Djukanovic schon heute angehört, weitere Kräfte stoßen.

Hatten Sie zu Beginn der Nato-Angriffe die Hoffnung, daß die von Ihnen gewünschte Ablösung Milosevics durch die Bombardierung Jugoslawiens beschleunigt werden könnte?

Ich habe schon vor den Bombenangriffen fälschlicherweise gehofft, daß Milosevic sich auf eine Kompromißlösung einlassen würde. Aber es ist offensichtlich, daß er in der jetzigen Situation keinen Kompromiß will - genausowenig übrigens wie die Nato. So fatal Milosevic für Serbien ist, so fatal ist dieser Krieg für Europa.

Wäre der Vertrag von Rambouillet ein Kompromiß gewesen, den Sie hätten unterstützen können?

Nein. Davor gab es weitaus bessere und größere Chancen, die jedoch verpaßt wurden. Rambouillet war nichts anderes als der Anfang des Krieges - das letzte Ultimatum an Jugoslawien. Der Vertragsentwurf ist ein Diktat des Westens.

Es gab im Oktober letzten Jahres das Abkommen zwischen dem US-Sondergesandten Richard Holbrooke und Milosevic, in dem die Präsenz einer zivilen OSZE-Beobachtertruppe vereinbart wurde und nicht, wie in Rambouillet vorgesehen, eine bewaffnete Truppe. Wäre das ein Modell gewesen, mit dem eine Autonomieregelung für das Kosovo hätte abgesichert werden können?

Politisch wäre dies sicherlich klüger gewesen, weil so die Zusammenarbeit mit den Europäern hätte ausgebaut werden können. So gab es ja auch den Vorschlag, den früheren spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonz‡lez als OSZE-Missionschef in die Provinz zu entsenden.

Die 2 000 zivilen Beobachter sind ja bereits nach sechs Monaten wieder aus dem Kosovo abgezogen. Wie beurteilen Sie die Arbeit der Mission?

Sie waren in ihrer Rolle als unbewaffnete Beobachter nicht in der Lage, die eskalierende Gewalt weder seitens der Serben noch der Kosovo-Albaner zu stoppen. Inzwischen ist aber auch bekannt, daß William Walker, der Chef der Mission, nicht im Interesse der OSZE gearbeitet hat, sondern - im Gegenteil - versuchte, die Arbeit seiner eigenen Organisation zu behindern. Das haben die USA inzwischen auch bestätigt.

Wenn Sie sagen, daß die OSZE nicht in der Lage war, die Kämpfe zwischen UCK und serbisch-jugoslawischen Einheiten zu stoppen, heißt das, daß Sie für eine militärische Lösung plädieren?

Ich bin gegen jede Militärintervention. Das Problem der OSZE war, daß sie von ihren Mitgliedsstaaten von Beginn an nicht ausreichend unterstützt worden ist. Dabei darf man auch die Verantwortung der Westmächte bei der Bewaffnung der UCK nicht aus dem Spiel lassen.

Wie könnte eine Lösung denn dann aussehen?

Ich denke, daß eine internationale Friedenstruppe in das Kosovo entsandt werden sollte. Allerdings müßte es deren erste Aufgabe sein, die UCK zu entwaffnen. Danach könnte sie dafür sorgen, daß Kosovo-Albaner und flüchtige Serben zurückkehren können. Das wird aber nicht möglich sein, wenn diese Truppe unter dem Oberkommando der Nato steht. Schließlich führt die Nato Krieg gegen Jugoslawien - und kann allein deshalb keine Friedenskräfte stellen, die für das Kosovo so dringend gebraucht werden.

Nach dem Vorbild der Sfor-Truppen in Bosnien?

Nur teilweise. Es ist falsch, lediglich für ein Schweigen der Waffen zu sorgen. Man muß noch viel mehr für die Implementierung friedlicher Formen des Zusammenlebens tun. Im Mittelpunkt dürfen nicht die militärischen Fragen stehen, sondern die politischen.

Aber die werden doch von außen oktroyiert - von der EU, dem Internationalen Währungsfonds, der OSZE und anderen internationalen Institutionen. Kann Jugoslawien nach einem derartigen Friedensschluß überhaupt noch als selbständiger Staat bezeichnet werden?

Es ist klar, daß das Großkapital, sobald es in einem anderen Land investiert, immer die staatliche Eigenständigkeit bedroht - was aber nicht heißen soll, daß westliche Firmen Jugoslawien nun einfach die Unabhängigkeit abkaufen könnten. Der Prozeß ist wesentlich komplizierter. Deshalb muß man auch die Veränderungen in Europa ernst nehmen, wo gerade der Verlust der nationalen Souveränitäten zugunsten einer europäischen Identität hingenommen wird. Es hängt vor allem von den Menschen ab, die ein Land führen, wie mit Hilfe von außen umgegangen wird.

Aber die EU-Staaten sehen für Jugoslawien doch nichts anderes als einen Platz an der Peripherie Europas vor, in der es allenfalls durch billige Arbeitskräfte konkurrenzfähig wäre.

Wenn Europa Jugoslawien wirklich zum Dritte-Welt-Land degradieren wollte, wäre das eine sehr schlechte Politik - weil Armut auf dem Balkan auch Europa weiter destabilisieren würde. Europa wird nach diesen Nato-Angriffen über sich nachdenken müssen: Demokratie läßt sich eben nicht mit Bomben exportieren. Wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, werden einige Regierungen von ihren Wählern sicherlich bestraft werden dafür, daß sie die Bombardements unterstützt haben.

Zum Schluß vielleicht ein Ausblick: Was erwarten oder erhoffen Sie sich für die nächsten zehn Jahre, nachdem das vergangene Jahrzehnt die kriegerische Zerschlagung des jugoslawischen Staatsverbandes gebracht hat?

Es ist schwierig, eine Vision zu entwickeln oder auch nur eine Prognose zu wagen. Diese zehn Jahre der Zerstörung und des Separatismus sind bei den Menschen aller Nationen immer noch sehr stark präsent. Ich befürchte, daß die Kleinstaaterei noch lange anhalten wird. Schon allein deshalb, weil auf allen Seiten sehr viele Menschen weiterhin traumatisiert sind. Auch wenn es zu einem ökonomischen Fortschritt kommen sollte, bin ich mir nicht sicher, ob dadurch die psychischen Traumata überwunden werden können. Ich denke, daß es sehr lange dauern wird, bis es zu einer wirklichen Versöhnung der neugegründeten Staaten kommen wird - und auch Europa wird daran noch lange zu knabbern haben.