Viele kleine Sünderlein

Die Kampagne "Erlaßjahr 2000" will mit Abs und Demut eine Schuldenstreichung mobilisieren

Am 19. Juni wird es in der Kölner Innenstadt wie auf einem evangelischen Kirchentag zugehen. Bis zu fünfzigtausend Christen aus ganz Europa werden an diesem Tag in der Stadt erwartet. Einige haben sich ganz jesusmäßig schon jetzt zu Fuß auf den Weg gemacht. Höhepunkt des Spektakels wird dabei eine Menschenkette sein, mit der die zeitgleich tagenden acht Staats- und Regierungschefs auf ihrem Weltwirtschaftsgipfel (WWG) für eine Viertelstunde eingeschlossen werden sollen.

Doch fürchten müssen sich die Gipfelteilnehmer nicht, denn Böses haben die DemonstrantInnen mit ihnen nicht im Sinn. Vielmehr wollen sie die Regierenden davon überzeugen, daß es doch im Interesse aller sei, wenn sie den verschuldeten Ländern der sogenannten Dritten Welt etwas entgegenkommen würden.

Die Jahrtausendwende bietet nach Ansicht der Christen eine gute Gelegenheit dazu. War es doch ein vom Alten Testament überlieferter Brauch, daß die Herrschenden ihren Untertanen als besondere Gunst an runden Jahreszahlen die Schulden erlassen haben. "Heiligt das fünfzigste Jahr und verkündet Freiheit für alle Bewohner. Ein Erlaßjahr soll es für Euch sein" - mit diesem Bibelzitat eröffnet der deutsche Trägerkreis der Kampagne "Erlaßjahr 2000 - Entwicklung braucht Entschuldung" seine Plattform. In der Kampagne haben sich auf einer Tagung in Wuppertal im September 1997 Nichtregierungsorganisationen (NGO) mit christlichen Initiativen und entwicklungspolitischen Gruppen zusammengeschlossen. Verbindungen gibt es auch zum Antoniter-Plenum in Köln, einem Bündnis u.a. von der Euro-Marsch-Initiative, von Gewerkschaften, Dritte-Welt-Gruppen und kirchlichen Initiativen gegen den EU- und WWG-Gipfel.

Zwei zentrale Forderungen stehen nach Angaben des Kampagnenkoordinators Friedel Hütz-Adams im Mittelpunkt. Ein weitreichender Schuldenerlaß für die Länder der Dritten Welt und eine völkerrechtlich verbindliche Neugestaltung der internationalen Finanzbeziehungen im Sinne eines fairen Interessenausgleichs zwischen Schuldnern und Gläubigern. Vorbild ist das internationale Insolvenzrecht, das beim Konkurs von Firmen und seit einigen Monaten in Deutschland auch bei überschuldeten Privathaushalten angewandt wird. Wie bei Privatpersonen soll auch den BewohnerInnen der verschuldeten Länder ein Existenzminimum garantiert werden.

Friedel Hütz-Adams betont den internationalen Charakter der Kampagne. Mittlerweile gibt es in über 50 Ländern Kampagnen-Komitees mit eigenen Forderungen. In einigen Ländern stehe die heimische Korruption im Mittelpunkt, während in den afrikanischen Staaten auch der Kolonialismus und die jahrelange Unterstützung des südafrikanischen Apartheidsystems durch den Westen angeprangert werde.

Mit der Debatte um eine Schuldenstreichung, wie sie in den achtziger Jahren hauptsächlich in Lateinamerika geführt wurde, darf die Erlaßkampagne allerdings nicht verwechselt werden. Damals forderten linke Soziologen, aber auch Kubas Staatschef Fidel Castro und Perus Staatspräsident Alan Garcia, von den Ländern des Nordens Reparationen für die Schäden, die der Kolonialismus durch die jahrhundertelange Ausplünderung von Menschen und Rohstoffen in Lateinamerika angerichtet habe. Mit der Streichung sämtlicher Schulden könnten sie einen Bruchteil ihrer Verbindlichkeiten erfüllen.

Von solchen konfrontativen Forderungen will die Erlaßkampagne 2000 nichts wissen. Die OrganisatorInnen betonen die gemeinsamen Interessen: "Die Verantwortung für das heute untragbar hohe Schuldenniveau vieler Länder des Südens liegt nicht nur bei den Schuldnern, sondern bei Schuldnern und Gläubigern. Deshalb müssen beide Seiten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit dazu beitragen, daß ein Ausweg aus der Schuldenkrise geschaffen wird", heißt es ausgewogen in den Kampagne-Materialien.

Wo gemeinsame Interessen beschworen werden, darf das gemeinsame Feindbild nicht fehlen. Unter der Überschrift "Was hat die Verschuldung der Dritten Welt mit uns zu tun?" heißt es in der Unterschriftenliste der Kampagne Erlaßjahr 2000, die im Info-Blatt des ökumenischen Büros München abgedruckt wurde: "Schuldenbumerangs treffen früher oder später auch uns: durch Drogenhandel, Klimaveränderungen, Flüchtlinge oder durch den Verlust von Exportmärkten für unsere Industrie."

Den AktivistInnen des in der Lateinamerika-Solidarität engagierten ökumenischen Büros aus München ist diese Argumentation sauer aufgestoßen: "Wortwörtlich bedient sich diese Kampagne der Stereotypen, die inzwischen zum Mainstream-Argument geworden sind, um Asylgesetze zu verschärfen, sich nach außen noch mehr abzuschotten oder auch in die Souveränität anderer Völker einzugreifen. Das Böse kommt immer von außen", schreiben sie in der aktuellen Ausgabe ihres Infoblattes. Das Nürnberger Lateinamerika-Komitee faßt die Intention der Kampagne unter der polemischen Überschrift zusammen: "Wir sind alle kleine Sünderlein - oder wie vermeide ich Verluste für die deutsche Exportwirtschaft".

Das sind nicht die einzigen kritischen Reaktionen aus der Solidaritätsbewegung. Das Freiburger Informationszentrum Dritte Welt (iz3w) hat den Trägerkreis der Erlaßkampagne 2000 schon im letzten Jahr verlassen, weil die maßgeblich an der Aktion beteiligte NGO Germanwatch ausgerechnet den deutschen Bankier Hermann Josef Abs zum Vorbild der Kampagne erhoben hat. Denn Germanwatch-Mitarbeiter Klaus Milke nimmt den Namen seiner Organisation anscheinend wortwörtlich: "Von Abs lernen - diesen Slogan benutzen wir schon seit längerem."

"Hermann Josef Abs hat 1953 als Chefunterhändler dazu beigetragen, daß Deutschland als Vor- und Nachkriegsschuldner großzügig entschuldet wurde. Dies geschah ausdrücklich angepaßt an die zu erwartende Wirtschaftsleistung des jungen Deutschland, was letztlich das sogenannte Wirtschaftswunder erst möglich gemacht hat. Die Chance zu einem realistischen Neuanfang sollten viele der ärmsten Länder ebenfalls erhalten", heißt es dazu in einen Brief, der in den Blättern des iz3w abgedruckt wurde.

Die iz3w-MitarbeiterInnen erinnerten in ihrer Antwort an die von Milke nicht erwähnten Abschnitte in der Abs-Biographie. "Als Mitglied im IG-Farben-Vorstand war er ab 1941 auch Mitglied der IG-Auschwitz und trug die Verantwortung für die Rekrutierung von ZwangsarbeiterInnen und die Arisierung jüdischen Vermögens. Auch als finanzpolitischer Berater Konrad Adenauers bediente er sich auf der Londoner Schuldenkonferenz antisemitischer Klischees und versuchte deutsche Wiedergutmachungszahlungen an Israel zu hintertreiben."

Während die Freiburger InternationalistInnen betonten, daß für sie Abs unter keinen Umständen ein Vorbild sein kann, rechtfertigte einer der Hauptinitiatoren der deutschen Erlaßkampagne, Jürgen Kaiser, die Werbung mit dem Nazibankier. Was Abs für Deutschland herausgeholt habe, sei ein erfolgreiches Modell, seine Verhandlungsführung sei "genial" gewesen.

Milke will, wenn auch behutsam, weiter mit Abs werben. "Um das politische Umfeld für unsere Forderungen positiv zu beeinflussen, müssen auch die politischen Entscheidungsträger für das Schuldenthema sensibilisiert werden. Was eignet sich da besser als ein Rückblick in die deutsche Vergangenheit?"

Die interpretiert Milke dann sehr eigenwillig. Er übernimmt kritiklos die Propaganda der Konservativen, daß Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg durch die Versailler Verträge in die politische Isolation und in die wirtschaftliche Krise getrieben wurde. "Wir werden den Eindruck nicht los, als verfolge die Entschuldungskampagne - gewollt oder ungewollt - mit ihrem sorglosen Zugriff auf die deutsche Vergangenheit das Geschäft einer nationalen Entschuldigungskampagne", so das Resümee der iz3w-MitarbeiterInnen.