Alternative Lebensformen

Beim Erleuchteten

Mir ging's ja vor acht, neun Monaten auch so: Kohl? Uääähh! Nach 16 Jahren konnte und wollte ich den dicken Oggersheimer nicht mehr sehen und nicht mehr hören.

Dann passierte es: Es kamen die Tage des Niedersachsen mit den me-tallicblauen Augen und dem Autoverkäufer-Grienen. Es kamen die Tage des Kriegsministers, der all die Demü-tigungen heimzahlen wollte - egal, wem -, und des Außenamtschefs, der immer aussieht, als ob ihm jemand die Vorhaut bis zu den Ohren hochgezogen hätte. In mir wurde etwas wach - es Sehnsucht zu nennen, wäre zu pathetisch. Obwohl, gelegentlich ertappte ich mich dabei, wie ich vor mich hinsummte: "Als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war ..."

Nein, es war mehr eine wachsende Neugier, ein Drang zur Selbsterforschung: Welchen Einfluß hatte eigentlich meine Abscheu gegenüber Schröderfischerscharping auf meinen früheren Ekel gegen Kohl? Ich mußte feststellen, daß davon kaum etwas übrig geblieben war. Vielleicht könnte ich jetzt sogar seine persönliche Anwesenheit ertragen, was beim Kriegskabinett sicher nicht der Fall wäre. Es kam auf einen Selbstversuch an.

Die Gelegenheit bot sich, als die Konrad-Adenauer-Stiftung zu irgendeiner Euro-Jubelveranstaltung einlud. Das Thema war mir eigentlich egal. Das Tolle war: Die Veranstaltung sollte mit Kohl sein. Genauer: "Dr. Helmut Kohl MdB, Bundeskanzler a.D., Ehrenbürger Europas" sollte zum Thema "Vor einem neuen europäischen Jahrhundert" sprechen.

Diese ganze visionäre Verschnarchtheit war genau das Richtige. Die letzten Monate hatte Kohl als lächelnder Buddha auf der CDU-Bank vor sich hingedöst. Während der tagelangen Haushaltsdebatte hatte er ein einziges Mal das Wort ergriffen. Das Protokoll vermerkt: "Lachen des Abg. Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU)", und die Worte: "Da muß ich lachen!" Während der Haushaltsdebatte!

Der Eindruck, daß mein Altbundeskanzler kurz vor dem Eintritt ins Nirwana steht, verstärkte sich auf der Veranstaltung am Tiergarten. Der eindrucksvolle Mann wirkte, Verzeihung, nicht nur sympathisch, er hatte auch dieses glückselige Lächeln in den Augen, das auch Osho hatte, als er noch Baghwan war.

Und was er sprach, stützte die Erleuchtungsthese: Daß er begriffen hatte, daß "Nationalismus Krieg bedeutet". Oder: "Wer das Naturell unseres Landes und seiner Bürger kennt, der kann zumindest die Frage sich stellen, ob ein im Krieg siegreiches Deutschland zu einer solchen europäischen Einigung fähig gewesen wäre." Stellen Sie sich das mal von Schröder vor. Schade: Kohl redete nur eine knappe Stunde.

Ach ja. Als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war ... Sagen Sie mal, kann man das eigentlich auch als Mantra meditieren?