Der üble Geruch des Opportunismus

Nach dem Himmelfahrt-Parteitag schwanken die grünen Kriegsgegner zwischen innerparteilicher Opposition, Austritt und Neugründung

Es wurde ein Parteitag im Ausnahmezustand. Umzäunt von Nato-Draht und Absperrgittern, geschützt von einem polizeilichen Großaufgebot und abgeschirmt vor unbotmäßigen "Krawallmachern", berieten die Grünen in Bielefeld über Krieg und Frieden. Die "Sonder-Bundesdelegiertenkonferenz" startete mit einstündiger Verspätung - zunächst hatte die Polizei den Delegierten den Zugang zur Bielefelder Seidenstickerhalle freiprügeln müssen.

Über 60 Festnahmen und mehrere verletzte Demonstranten - eine einmalige Bilanz für eine grüne Veranstaltung. Wer es durch die Reihen der Protestierenden und Polizisten geschafft hatte und auch noch die beiden Einlaßkontrollen passieren konnte, wurde beim Betreten der Halle von einem penetranten Geruch überrascht: Buttersäure. Der üble Geruch hielt sich den ganzen Tag. Das Ambiente hätte passender nicht sein können.

Und dann noch der Farbbeutelwurf - auf den großen grünen Kriegsführer. So schnell, trotz Saalschutz, trotz Bodyguards. Das hätte der alte Streetfighter selber zu seinen besten Zeiten nicht so gut hinbekommen. Vielleicht hat er deswegen auch so allergisch darauf reagiert: Ausgerechnet Fischer hat Strafantrag erstattet gegen den Werfer, der zunächst hatte entkommen können. Auf einem Kriegsparteitag Anzeige wegen "gefährlicher Körperverletzung" zu stellen - dazu gehört Chuzpe.

Der "Joschka-Besudler" (B.Z.), ein 36jähriger ehemaliger Bielefelder, nach dem eine bundesweite Fahndung eingeleitet worden war, stellte sich am vergangenen Wochenende. Von einer Telefonzelle aus hatte er sich zuvor bei der Neuen Westfälischen in Bielefeld gemeldet und, nach Angaben der Redaktion, beteuert: "Die Verletzung war nicht das Ziel der Aktion." Fischers Trommelfellriß sei ein "Kollateralschaden". Aber: "Ich bereue nichts."

Das wenigstens dürfte er mit Fischer gemeinsam haben. Für ihn war der Farbbeutelwurf ein Glücksfall. Heribert Prantl spöttelte in der Süddeutschen, die Spuren des Farbanschlages habe Fischer wie den Orden Pour le mérite getragen. Ein "Attentat" auf ihren Joschka - das bewegte den einen oder anderen Delegierten noch mehr als alle Schilderungen von irgendwelchen massakrierten Kosovo-Albanern. Ein rotes Ohr und ein verschmutztes Jackett für eine Mehrheit - billiger hätte es der deutsche Außenminister nicht haben können. Er hat seinen Kriegskredit bekommen.

Eine andere Mehrheit wäre allerdings ohnehin ein Wunder gewesen. Denn Fischer hatte in seiner Parteitagsrede die Grenze scharf gezogen: "Ich halte zum jetzigen Zeitpunkt eine einseitige Einstellung - unbefristet - der Bombenangriffe für das grundfalsche Signal. Milosevic würde dadurch gestärkt und nicht geschwächt. Ich werde das nicht umsetzen, wenn Ihr das beschließt, damit das klar ist." Das war eine unverhohlene Rücktrittsdrohung. Dem gegenüber mußten alle Argumente gegen den Krieg verblassen, so sehr sich auch die grünen Bundestagsdissidenten Annelie Buntenbach, Christian Simmert und Hans-Christian Ströbele mühten. Immerhin konnte die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn einen Achtungserfolg erzielen. Ihre Rede für einen sofortigen und unbefristeten Stopp der Nato-Angriffe erhielt den größten Applaus auf dem Parteitag. Aber die Mehrheit stand: 444 Stimmen für den Antrag des Bundesvorstandes, in dem die Bundesregierung nur aufgefordert wird, "sich dafür einzusetzen, daß die Nato einseitig eine Unterbrechung der Luftangriffe auf Jugoslawien erklärt". Dabei wird sich Fischer noch nicht einmal dafür einsetzen - das wußte im Saal jeder.

Für den Alternativ-Antrag von Ströbele, Höhn und anderen stimmten 318 Delegierte. Es habe viele gegeben, "die gesagt haben: Wir hätten gerne eurem Antrag zugestimmt, aber wir haben es aus Disziplin nicht gemacht", erklärte Höhn später. So wurde die Entscheidung über Krieg und Frieden zur Frage der Parteidisziplin. Was könnte auch schlimmer sein als ein Bruch der rot-grünen Koalition? "Die Partei hat einen großen Schritt gemacht", kommentierte erfreut die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Kerstin Müller, das Ergebnis. Die Grünen hätten gezeigt, so Parteisprecherin Gunda Röstel, daß sie "auch in schwieriger Lage Verantwortung tragen können". Bettina Gaus drückte es in der taz treffender aus: "Die Grünen sind die opportunistischste Partei Deutschlands."

Christian Simmert, der zu den sieben Abweichlern in der grünen Bundestagsfraktion gehört, übt sich derweil in Zweckoptimismus. Er sei zwar "tief enttäuscht" über die "grundsätzliche Wende in der Friedens- und Außenpolitik", die die Grünen vollzogen hätten. Aber er will dem Bielefelder Parteitag trotzdem auch etwas Positives abgewinnen: "Auch wenn wir uns mit unserem Antrag nach einem sofortigen und endgültigen Ende der Bombardierungen auf dem Parteitag nicht durchsetzen konnten, so haben wir für unsere Position wenigstens eine qualifizierte Minderheit von 40 Prozent erreicht." Damit lasse sich arbeiten. Deshalb komme für ihn ein Austritt aus der Partei und aus der Fraktion nicht in Frage.

Daniel Kreutz hat sich hingegen noch nicht entschieden, was er jetzt machen will. "Weder in die eine noch in die andere Richtung." Die Meldung der taz, der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete habe bereits seinen Austritt erklärt, sei falsch, erklärte Kreutz zwei Tage nach dem Bielefelder Bundesparteitag der Grünen. Er will erst noch mit politischen Freunden über mögliche Konsequenzen diskutieren. Daß er nicht so weitermachen kann und will wie bisher, ist für den 44jährigen Kölner allerdings klar. Denn die Partei habe ihr Gesicht verändert. "Mit dem Bekenntnis zum Krieg als Mittel der Politik wird das unumkehrbar", so Kreutz. "Ich baue meine politische Perspektive darauf, daß am 6. Juni in Dortmund ein Forum GrünLinks, ein Netzwerk für drinnen und draußen entsteht." Ob er dann drinnen oder draußen sein wird, will er bis dahin entschieden haben.

Für Eckhard Stratmann-Mertens stellt sich diese Entscheidung nicht mehr. Das Gründungsmitglied der Öko-Partei sprach 1983 als erster Grüner im Bundestag. Seine letzte Rede als Grüner hielt der heute 51jährige Bochumer am Donnerstag letzter Woche. Nachdem sich die Forderung nach einem sofortigen und bedingungslosen Stopp des Nato-Bombardements nicht durchsetzen konnte, erklärte er noch auf dem Parteitag seinen Austritt. Nun hofft er, daß die Partei bei den Europawahlen "eine dramatische Niederlage erleidet, damit sie an der Wählergunst merkt, daß ihr Kriegskurs keine Zustimmung findet".

Auch Stratmann-Mertens wird Anfang Juni nach Dortmund zum Treffen der noch- oder nicht-mehr-grünen Kriegsgegner fahren. "Der Austritt aus den Grünen darf nicht dazu führen, daß wir uns zurückziehen und politisch vereinsamen", sagt er. Außerdem gehe es "um eine Art Brückenfunktion zu denen, die in der Minderheit sind in den Grünen".

Bis zum 6. Juni werden wohl noch einige Grüne dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Stratmann-Mertens gefolgt sein. "In sehr vielen Kreis- und Ortsverbänden gärt es", berichtet er. "Teile ganzer Kommunalfraktionen überlegen, aus den Grünen auszuscheiden." Schon bei einem Treffen der grünen Kriegsgegner unmittelbar nach Ende des Bielefelder Parteitages hatten viele der Anwesenden ihre Austrittswilligkeit bekundet - unter ihnen Daniel Loick.

Für den Duisburger Studenten, Mitglied des Bundesvorstandes der ehemaligen FDP-Jugendorganisation Jungdemokraten, bedeutet "die Unterstützung der Grünen für den Kriegstreiberkurs der Regierung den Abschied der Partei von den letzten fortschrittlichen Positionen". Die Jungdemokraten, immer noch offiziell Ansprechpartner der Grünen im Jugendspektrum, wollen nun eine Kampagne starten: "Grüne unter fünf Prozent!" und mit "phantasievollen Aktionen" grüne Wahlkampfveranstaltungen beglücken.

In Nordrhein-Westfalen wird damit gerechnet, daß bis zu zehn Prozent der Mitglieder die Partei verlassen werden. Der grüne Spitzenkandidat für die im Herbst anstehenden Kommunalwahlen in Essen, Hans Peter Leymann-Kurtz, hat diesen Schritt bereits am Freitag vollzogen. Auch der grüne Bürgermeister der hessischen Gemeinde Biebesheim, Thomas Rahner, hat am vergangenen Freitag "als Abschluß eines langen Entfremdungsprozesses" die Parteibrocken hingeschmissen.

In Hamburg haben gleich fünf der 21 GAL-Abgeordneten ihren Abschied von der ehemaligen Ökopaxe-Partei angekündigt, um nun eine eigene neue Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft zu gründen. "Es werden weiße Flecken auf der grünen Landkarte entstehen, weil einige Kreis- und Ortsverbände einfach aufhören zu existieren", prophezeite denn auch am vergangenen Donnerstag der Hamburger Uli Cremer. Der Mitinitiator der grünen Anti-Kriegs-Initiative wollte allerdings über seine persönlichen Konsequenzen erst "noch ein paar Tage nachdenken".

Der Nato-Krieg gegen Jugoslawien geht unterdessen unvermindert weiter. Manche linke Grüne, die sich nicht von ihrer Partei trennen können, hoffen nun auf den Bodenkrieg. Denn wenn der kommt, dann gäbe es ganz sicher eine Mehrheit gegen den Krieg, auch wenn darüber die Koalition zerbrechen würde. Ganz sicher.