Sandwich flexible

In Frankreich verschärft sich nach dem Streik der Eisenbahner die Diskussion um die 35-Stunden-Woche

Wozu Streiks alles gut sein können: Als Anfang Mai viele französische Eisenbahner die Arbeit niederlegten, entfachten sie damit auch wieder die Diskussion über die allgemeine Reduzierung der Arbeitszeit. Die Auseinandersetzungen in Frankreich drehen sich dabei um das "Zweite Gesetz zur 35-Stunden-Woche", das im Herbst dieses Jahres verabschiedet werden soll.

Die Verkürzung der Arbeitszeit (réduction du temps de travail - kurz RTT) wird derzeit nach einer Prozedur umgesetzt, die von den regierenden Sozialisten 1997 vorgegeben wurde und auf einen neuen Konsens der "Sozialpartner", also der Gewerkschaften und Kapitalvertreter, auf betrieblicher Ebene zielt. Die Grundlage dafür ist ein Gesetzgebungsverfahren, das in mehreren Stufen umgesetzt wird und sich als "Sandwich-Gesetz" beschreiben läßt.

Den Anfang machte ein im Juni 1998 verabschiedetes Gesetz, das nach der sozialistischen Arbeitsministerin Martine Aubry benannt wurde. Es beschränkt sich darauf, Anreize für erfolgreiche Abschlüsse in den Verhandlungen zu geben. Jene Betriebe, denen eine Verkürzung der Arbeitszeit um zehn Prozent und eine Erhöhung der Beschäftigtenzahlen um sechs Prozent für mindestens zwei Jahre gelingt, werden anschließend durch staatliche Unterstützung belohnt.

Die Ergebnisse dieser Verhandlungen sollen den Belag des Sandwichs bilden, wobei das RTT einen leicht unangenehmen Geschmack erhält, da die Verkürzung der Arbeitszeit in der Praxis mit der Forderung nach erhöhter Flexibilität der Arbeitskräfte verbunden ist. Einen weiteren Teil im Paket bildet das loi balai (Besengesetz), das zweite Gesetz zur RTT, das im Oktober parlamentarisch beraten werden soll. Nur das, was in den bisherigen Abschlüssen zwischen den Vertragspartnern konsensfähig war, soll dann in den Gesetzestext einfließen. Erst dann wird das 35-Stunden-Gesetz zur Norm.

Die Gewerkschaftsorganisationen und der Unternehmerverband MEDEF haben nun in den letzten Wochen damit begonnen, ihre Anforderungen an dieses zweite Gesetz zu formulieren. So fordert der MEDEF etwa eine Übergangsphase bis 2001 - nach der bisherigen Planung sollte die 35-Stunden-Woche in großen und mittleren Betrieben bereits ab dem kommenden Jahr eingeführt werden. Die Chefin des sozialliberalen Gewerkschaftsbunds CFDT, Nicole Notat, unterstützt diesen Vorschlag. Denn die Unternehmen hätten dadurch mehr "Zeit zum Verhandeln", erklärte Notat.

Ihr Ziel ist deutlich: Direkte Abkommen mit den Unternehmern könnten ihrer Organisation Privilegien verschaffen, die bei einer vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Regelung wohl ausbleiben würden. Die KP-nahe gewerkschaftliche Dachorganisation CGT will hingegen die mit der RTT verbundene Einführung von Flexibilisierungen auf ein Minimum reduzieren.

Denn eine wachsende Anzahl der abhängig Beschäftigten hat bereits jetzt mit den Folgen des Aubry-Gesetzes zu kämpfen: In 48 von 175 Branchen wurden mittlerweile eigene Abkommen abgeschlossen, auf Betriebsebene setzt sich diese Entwicklung fort. Bis Ende April sind dort mehr als 3 600 Abkommen geschlossen worden, die mehr als eine Million Lohnabhängige betreffen. Mehr als 50 000 Arbeitsplätze wurden so geschaffen oder "gerettet" - die meisten davon sind an flexible Arbeitszeiten gebunden.

Schon stellen sich auch die ersten Proteste der Beschäftigten ein. Beispielsweise in der Automobilfabrik Renault, wo Arbeitstage durch das Aubry-Abkommen auf bis zu zwölf Stunden ausgedehnt werden können. Und auch der Samstag gilt, bis zu 23mal im Jahr, wieder als normaler Arbeitstag. Die Arbeitszeitverkürzung besteht bei Renault aus zehn zusätzlichen freien Tagen im Jahr, die meist von der Betriebsleitung ausgewählt werden.

Befragungen der Gewerkschaften CGT und CFDT bei Renault kamen zu dem Ergebnis, daß zwischen 80 und 90 Prozent der Befragten das Abkommen ablehnen. Nun ist die CFDT, deren Leitung auf Renault-Ebene das Abkommen unterzeichnet hat, gespalten, da sieben von zehn CFDT-Sektionen die Unterschrift unter den Text verweigern. Eine erste Reaktion folgte in der vergangenen Woche: Drei führenden CFDT-Mitgliedern wurden deshalb ihre gewerkschaftlichen Ämter und Mandate entzogen.

Die großen privaten Betriebe haben mit den führenden öffentlichen Unternehmen gemein, daß die RTT-Abkommen in den meisten Fällen ohne die durch das loi Aubry vorgesehenen finanziellen Hilfen des Staates abgeschlossen wurden. Bei den großen Privatunternehmen erklärt sich dies daraus, daß die RTT-Regelung ihnen fast ausschließlich zur Umorganisierung der Arbeitszeiten und zu mehr Flexibilität dienen - ohne neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Im öffentlichen Sektor hingegen hat der Staat gar nicht das Recht, die durch das Aubry-Gesetz vorgesehene Hilfen zu gewähren: Dies wäre ein Verstoß gegen EU-Recht, das staatliche Subventionen an Gesellschaften mit Quasi-Monopolstellung als Behinderung des freien Wettbewerbs betrachtet. So wurde die angekündigte staatliche Unterstützung für das öffentliche Strom- und Gasunternehmen EDF-GDF nach dem Abschluß eines RTT-Abkommens im Januar dieses Jahres bald wieder dementiert.

Faktisch aber wird der Staat voraussichtlich wegen der "Abfederung von Mehrkosten" die bei EDF-GDF geschaffenen Arbeitsplätze subventionieren. Denn als sich im Herbst 1998 abzuzeichnen begann, daß die Arbeitsplatzbilanz der loi Aubry-Verhandlungen im privaten Sektor katastrophal ausfallen würde, drängte Arbeitsministerin Aubry energisch darauf, daß der Staat seine Stellung als Arbeitgeber im öffentlichen Sektor nutze, um "ihr" Gesetz zu retten.

Ähnlich wie bei EDF-GDF versucht auch die (öffentliche) Bahngesellschaft SNCF ein mehr oder minder wackeliges "Gleichgewicht" zu wahren. Der Staat soll hier in die Tasche greifen - wenn auch nicht offen wegen möglicher Sanktionen aus Brüssel. Die gewerkschaftlichen Kräfte, vor allem die CGT als die mit Abstand stärkste Gewerkschaft der Eisenbahner, sollen zu diesem Zweck in die Verhandlungen eingebunden werden.

Das RTT-Abkommen bei der SNCF sieht rund 25 000 Neueinstellungen während der nächsten drei Jahre vor, während in derselben Zeit knapp 20 000 altersbedingte Abgänge erfolgen. Die Arbeitszeit soll, ohne Lohnverlust, in Form von 15 zusätzlichen freien Tagen pro Jahr verkürzt werden. Während die "seßhaften" Mitarbeiter am Schalter und in den Büros dabei voraussichtlich gewinnen würden, sieht es für das "rollende Personal" anders aus.

Die Kontrolleure, Zugführer und das Begleitpersonal haben bereits eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden und müssen mit einem komplizierten System von An- und Umrechnungen zurechtkommen, bei denen die fern des Wohnortes verbrachte Zeit durch Freizeit ausgeglichen wird. Ihnen drohen aufgrund der RTT Lohnverluste. So kam es zwar zum Streik. Doch wegen der verwickelten Lohn-Arbeitszeit-Konstellationen und der oftmals unklaren Fronten und Interessenslagen blieb die Streikbewegung bisher auch unter den "Rollenden" mit rund 25 Prozent minoritär. Zum ersten Mal seit einigen Jahren hatte ein Streik der Eisenbahner die öffentliche Meinung mehrheitlich gegen sich. Nachdem die SNCF einige Nachbesserungen getroffen hatte, wurde der Streik nach zehn Tagen beendet.