Sieg um jeden Preis

Die Nato-Angriffe zerstören die Lebensgrundlage Jugoslawiens. Über die möglichen Folgen einer Ausweitung des Krieges

So smart er auch ist: Langsam verlieren die Pressekonferenzen von Jamie Shea im Nato-Hauptquartier in Brüssel ihre Attraktivität für die aus aller Welt zugereisten Journalisten. Beinahe jeden Tag muß der Brite vor sein Publikum treten und einen Schlag des westlichen Militärbündnis zum sportlichen Ereignis degradieren: Jeden Tag spricht Jamie Shea davon, daß die Nato ihre Luftangriffe erneut intensiviert habe, die jeweilige Bombennacht die "erfolgreichste" seit Beginn des Krieges gewesen sei und die Nato gar nicht daran denke, die Luftangriffe einzustellen. Im Gegenteil.

Von den ursprünglich angepeilten politischen Zielen möchte Shea seit neuestem nicht mehr sprechen, denn auch ihm haben die Nato-Generäle wohl inzwischen eingebleut, daß der Vertrag von Rambouillet tot ist. Mangels anderer Strategien wird eben weitergebombt. Nach immer demselben Muster: Der Tod der Zivilisten wird bedauert, nur um die Angriffe zu verstärken. Ziel: die militärische Niederlage des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic.

Dabei konnte die Nato selbst militärisch in den letzten sieben Wochen des Krieges kein wirklich erfolgreiches Ergebnis erzielen. Zwar betont Jamie Shea gerne, wie demoliert inzwischen Gerätschaft und Kampfmoral der serbischen Armee sind, doch zu einem Ende des Krieges hat das bisher nicht geführt. Nach bald 60 Tagen Krieg zeigt allein die nackte Statistik, daß die tatsächliche Kampfkraft der serbischen Truppen im Kosovo so schlimm eingeschränkt nicht sein kann: 18 800 Mal starteten Nato-Flugzeuge seit Beginn der Angriffe in das Kriegsgebiet, 4 800 Starts waren Kampfeinsätze. Die Bomben der Nato haben bislang 275 mehr oder minder kriegswichtige Ziele zerstört, ebenso sind 80 Flugzeuge der jugoslawischen Armee in Flammen aufgegangen. Zwanzig Prozent der Armee-Kasernen wurden zerbombt und ein Fünftel der Munitionslager getroffen.

Mittelfristig werden die Zerstörungen sicherlich ihre Wirkung bei der jugoslawischen Armee nicht verfehlen, doch bis dahin wird das Morden im Kosovo weitergehen. Die Flugzeuge des Bündnisses fliegen mindestens 4 000 Meter hoch, um eventuellen direkten Feindkontakt zu vermeiden. Die paramilitärischen Trupps der Serben im Kosovo haben auf diese Weise nicht getroffen werden können. Selbst die nach zwei Selbstzerstörungen nur noch 22 Apache-Hubschrauber im nördlichen Albanien werden bislang nicht eingesetzt.

Die Null-Verluste-Taktik der Nato bedingt auch, daß sich die "bedauerlichen Fehler" des Militärbündnisses bei der Bombardierung häufen: Am vergangenen Freitag trafen mehrere Bomben einen Flüchtlingstreck in der Nähe der im Südwesten des Kosovo gelegenen Ortschaft Korisa. Bis zu einhundert geflohene Kosovo-Albaner, die die Nato weiterhin zu schützen behauptet, starben bei der Attacke. Nachdem die Nato wie üblich den Angriff dementierte, mußte Jamie Shea schließlich doch eingestehen, daß Nato-Bomben als Todesursache in Frage kommen, betonte aber: "Die Nato zielt auf keine zivilen Ziele. That's it."

Schon in den ersten Wochen des Krieges offenbarte sich, daß der "chirurgische Eingriff" ziemlich kurpfuscherhaft durchgeführt wird. Am 20. Tag der Militäroperation traf eine Nato-Rakete einen internationalen Zug, der gerade über eine Brücke fuhr. Zehn Menschen starben. Zwei Tage später töteten Nato-Geschosse Dutzende von kosovo-albanischen Flüchtlingen, die in einem Konvoi gerade das Kosovo verlassen hatten. "Ein bedauerlicher Irrtum", meinte Jamie Shea damals und versprach als Wiedergutmachung die Intensivierung der Luftangriffe. Einige Tage später befand sich wieder ein Konvoi mit Flüchtlingen an einer Stelle im Kosovo, an der er nicht hätte sein sollen. Wieder mußten Menschen sterben. Nato-Sprecher Jamie Shea bedauerte zutiefst. Und versprach eine Intensivierung der "erfolgreichen" Luftangriffe.

Am 31. Tag des Krieges starben zehn Menschen, weil sie sich zum falschen Zeitpunkt im Gebäude des serbischen Fernsehens in Belgrad aufgehalten hatten. Diesmal allerdings war der Treffer durch mehrere Nato-Raketen kein Irrtum. Die Nato bekannte sich zur historischen Aufgabe, das Propagandawerkzeug Slobodan Milosevics ausgeschaltet zu haben. Nato-Sprecher Jamie Shea sprach von einem "legitimen Ziel". Ein ebenso legitimes Ziel war einige Tage später eine Brücke in der Nähe des kosovarischen Dorfes Luzane. Schade bloß, daß sich zwischen Nato-Rakete und Brücke ein Bus auf dem Weg nach Montenegro befand. Dutzende Menschen starben.

Wenn man der Nato-Kategorisierung von Radio- und Fernsehsendern, ausländischen Botschaften, Autofabriken und Ölraffinerien als militärische Ziele folgt, hat Shea vielleicht sogar recht: Gezielt wird nicht auf zivile Ziele, getroffen werden sie dennoch. Da ist es auch nicht sehr tröstlich, wenn die Nato empört darauf verweist, daß Slobodan Milosevic die Zivilisten von Korisa angeblich als menschliche Schutzschilde mißbraucht habe.

Oder sollte es möglicherweise doch anders sein? Nimmt die Nato inzwischen zivile Opfer bewußt in Kauf, weil der Krieg gegen Milosevic nur als Krieg gegen Jugoslawien geführt und gewonnen werden kann? Die Nato-Argumentation fortgedacht, ist das ganze Land ein Schutzschild Milosevics und daher auch ein militärisches Ziel. Nicht nur die steigende Zahl getöteter Zivilisten, auch die dabei eingesetzten Waffensysteme lassen darauf schließen, daß mittlerweile der Zweck jedes Mittel und jedes Ziel heiligt. Und die unabsehbaren Folgen billigend in Kauf genommen werden.

Um die jugoslawischen Streitkräfte zu vernichten, greift die Nato auf ihre im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagendsten Waffen zurück. Dreitausend Schuß pro Minute kann der Pilot aus der Bordkanone des amerikanische A-10-Kampfflugzeuges abfeuern - dreitausend Schuß einer Spezialmunition, die jugoslawische Panzer stoppen und zerstören soll. Die äußerlich unscheinbaren 30-Millimeter-Geschosse, deren Einsatz die Nato am Wochenende erstmals offiziell bestätigte, haben eine verheerende Wirkung: Atomkrieg niedriger Intensität.

Die Munition ist deswegen so wirkungsvoll, weil in ihrem Innern ein Metallkern aus radioaktivem Uran-238 eingeschlossen ist - sogenanntes depleted uranium, abgereichertes Uran. Dieses ist so hart - d.h. es hat eine so hohe Dichte - daß es, einmal auf die nötige Geschwindigkeit gebracht, jede Panzerung durchschlägt. Die beim Aufschlag entstehende Energie reicht aus, um das brennbare Metall zu entzünden; der Panzer verkohlt von innen.

Seit dem Golf-Krieg ist auch eine weitere Wirkung dieser Waffe bekannt. Bei der Verbrennung des Urans entsteht radioaktiver Staub, der über Lunge und Magen in den menschlichen Körper gelangen kann. Leukämie, genetische Veränderungen bei Neugeborenen, Nieren- und Leberschäden sowie schwerwiegende Allergien sind als Folgeerscheinungen des Einsatzes dieser Waffentechnologie bekannt geworden. Langfristig lagert sich radioaktiver Staub an Pflanzen ab und kann über die Nahrungskette in den menschlichen Körper gelangen. Im Grunde unterscheidet sich diese Munition von als Atomwaffen deklarierten Systemen nur dadurch, daß keine atomare Kettenreaktion ausgelöst wird (unterkritische Masse) und der Ausbreitungsradius der radioaktiven Partikel begrenzt ist. Der kanadische Chemiker Hari Sharma geht davon aus, daß nach dem Golfkrieg bis zu 35 000 Menschen an den Spätfolgen der Uranvergiftungen sterben werden. Allein im Irak liegen immer noch die Überreste von über 300 Tonnen Uranmunition.

Die eingesetzten Waffen lassen daher schon von vornherein eine Beschränkung auf rein militärische Ziele gar nicht zu. Die Gefährdung aller in dem Gebiet lebenden Menschen wird prinzipiell nicht ausgeschlossen - und die nachhaltige Zerstörung des ganzen Landes in Kauf genommen. Die größten Gefahren gehen dabei von den Angriffszielen der Nato aus: Die Folge sind Schäden, deren voller Umfang noch gar nicht abzusehen ist.

Wenn Düngemittelfabriken und Erdölraffinerien wegen deren strategischer Bedeutung für den Treibstoffbedarf des jugoslawischen Militärs bombardiert werden, führt dies neben dem Produktionsausfall zur Freisetzung von Giftstoffen verschiedenster Art. Als irakisches Militär bei seinem Rückzug aus Kuwait Ölfelder in Brand setzte und riesige Mengen an Dioxin und anderen Giftstoffen die Atemluft in einem von relativ wenig Menschen bewohnten Gebiet verseuchte, ging ein Aufschrei durch die westliche Welt.

In Novi Sad, der größten Stadt der Vojvodina, und in Pancevo bei Belgrad greift die Nato die größten jugoslawischen Erdölraffinerien permanent an. Hunderttausende Tonnen Erdöl verbrennen, dadurch entstehen verheerende Auswirkungen für die dort wohnenden Menschen. Nach Angaben der Serbian Ecological Society und der Universität Belgrad wurden enorme Mengen Giftgas freigesetzt, Schwermetalle und Ammoniak, alles hochgradig krebserregende Stoffe. Nebenbei gelangen riesige Mengen Kohlendioxid, das bei jeder Verbrennung entsteht, in die Atmosphäre.

Tausende Liter Erdöl versickern aus zerstörten Tanks in das Grundwasser oder gelangen in die Flüsse. Dabei reicht ein Liter Öl, wie jeder Umweltschützer weiß, um Hunderttausende Liter Trinkwasser zu verseuchen. Ölteppiche, die viel größer sind als die, die in Deutschland Regierungskrisen wie zuletzt in Schleswig-Holstein auslösen, treiben auf der Donau und anderen Flüssen Jugoslawiens. Allein auf der Donau schwimmt seit Wochen ein 15 Kilometer langer Ölteppich.

Auf seinem Weg ins Schwarze Meer gefährdet das Öl die Wasserversorgung der Nachbarstaaten Jugoslawiens. Damit ist auch die Versorgung bulgarischer und rumänischer Atomkraftwerke mit Kühlwasser in absehbarer Zeit bedroht - dies erhöht die Wahrscheinlichkeit von Störfällen. Trinkwasser kann nur noch mit sehr aufwendigen Technologien erzeugt werden, da es weiträumig vergiftet ist.

Bei aller Kritik am Einsatz diverser Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel bleibt zu konstatieren, daß darauf die Produktion von Nahrungsmitteln in Jugoslawien beruht. Stehen sie nicht zur Verfügung - und genau das ist die Folge der Vernichtung der Chemiefabriken -, ist die Ernährung der Menschen in Jugoslawien gefährdet. Schon jetzt ist klar, daß wegen der militärischen Aktionen rund 2,5 Millionen Hektar Felder im Kriegsgebiet nicht bestellt werden können. Mit den Vergiftungen von Boden und Grundwasser, den fehlenden Chemikalien zur Düngung sowie Schädlingsbekämpfung dürfte sich diese Fläche weiter vergrößern.

Über die ökologischen und zivilen Konsequenzen der Nato-Kriegsführung kann man derzeit nur spekulieren. Nur soviel ist sicher: Eine weitere Eskalation wird dabei zumindest nicht ausgeschlossen. Wie schnell aus dem Atomkrieg niedriger Intensität ein wirklicher werden könnte, zeigte sich Ende April: Als die USA die letzten ihrer mit konventionellen Sprengköpfen versehenen Tomahawks - rund 600 Stück - verschossen hatten, bezogen die Militärstrategen die Umrüstung in ihre Planspiele mit ein. Ursprünglich mit Atomsprengköpfen bestückte Tomahwks sollten mit konventionellen Sprengköpfen versehen werden. Das Spiel mit der atomaren Komponente ist seitdem im Gange.

Ein Spiel, dessen Ende nicht abzusehen ist. Denn die tägliche "Intensivierung der Angriffe", von denen der smarte Jamie Shea in Brüssel so routiniert spricht, verfolgt nur noch ein Ziel: Sieg um jeden Preis.