Baströcke und Blaskapelle

Gefährliche Orte LXII: Beim Karneval der Kulturen übte sich die Hauptstadt in risikofreiem Crossdressing

Was eine richtige Hauptstadt ist, die muß auch ein Schmelztiegel sein. Das finden alle. Die Linken finden es, weil Vielfalt besser ist als Einfalt, die Konservativen finden es, weil eine deutsche Hauptstadt doch auch ein bißchen New York-mäßig sein sollte, sonst stehe Deutschland im internationalen Vergleich nicht gut da. Die Medien finden das, weil Vielfalt sich besser filmen läßt als Einfalt, und die restliche Wirtschaft findet das auch, schließlich ist ein vielfältiges kulturelles Abgebot ja auch ein Standortvorteil.

Und das will eigentlich niemand nur beim Gemüsehändler in die Auslage hineininterpretieren, gelegentlich im Restaurant schmecken oder in der U-Bahn gegenübersitzen haben, und so gibt es einmal im Jahr den Karneval der Kulturen. Vor vier Jahren wurde er von der Werkstatt der Kulturen zum ersten Mal organisiert, als Parade durch die Straßen von Kreuzberg. Mittlerweile ist er aus der Dreifaltigkeit der Berliner Straßenparaden nicht mehr wegzudenken, hat an Größe den Christopher Street Day schon überflügelt und schickt sich an, den Reigen der hauptstädtischen Straßenspektakel als die bessere Love Parade zu eröffnen.

Doch kein Karneval der Kulturen ohne Multikulti, nicht zuletzt deshalb, weil in Deutschland unter dem Begriff der Kultur ohnehin der Hund begraben liegt. Kaum steht die Veranstaltung vor der Tür, wird sich allerorten über die Chancen und Risiken, das Scheitern und Gelingen der multikulturellen Gesellschaft verbreitet. Wobei der Kanon etwa so lautet: Was im Alltag nicht klappt, weil alle nur nebeneinanderher existieren, gelingt einmal im Jahr, weil alle zusammen repräsentieren. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Der Karneval der Kulturen ist eigentlich ein Karneval der Lebensstile und die übersetzen sich in Deutschland nicht selten als kulturelle Konstruktionen. Denn die meisten, die als Regenwaldvolk gekleidet zu exotischen Trommeln die Straßen entlang springen, sind schlicht verkleidete Deutsche.

So war es in den vergangenen Jahren und so ist es auch dieses Mal. Während im Reichstag der Bundespräsident gewählt wird, ziehen 120 Wagen oder Gruppen durch Kreuzberg, eine halbe Million Menschen säumen die Straßen, die Sonne scheint und alle haben gute Laune. Etwa die Sambagruppen. Wer glaubt, Sambaschulen gäbe es nur in Brasilien, hat sich getäuscht: Auch in Berlin wird an Kostümen gebastelt und das ganze Jahr über in Fabriketagen übungshalber im Kreis getanzt. An Pfingsten setzt man sich die Blumenvase oder den Froschkopf-Hut dann auf den Kopf und repräsentiert brasilianische Lebensfreude auf deutschen Straßen.

Ein bißchen soll dies an den Notting Hill Carnival in London erinnern, aber da sich die ansässigen Kreuzberger Communities zurückhalten, weil, wie es im postalternativen Stadtmagazin zitty heißt, es in der Türkei als Schande gelte, auf der Straße zu musizieren, ist es eben doch vor allem ein Festival diverser deutscher Befindlichkeiten. Wo es deutschen Bewohnern ländlicher Gegenden noch reicht, einfach in einem Spielmannszug mitzumarschieren, bei Umzügen und Schützenfesten in Uniform die Dorfstraße auf und ab zu laufen und dabei Klarinette oder Saxophon zu spielen, sind die deutschstämmigen Stadtbewohner nicht so einfach zufriedenzustellen. Kultureller Mehrwert muß her, wenn es gilt, Freizeitvergnügen und seine Darstellung im öffentlichen Raum zu verbinden. Also muß eine Sambagruppe her. Oder eine Kung Fu-Schule mit angegliederter chinesischer Drachentanz-AG.

Und bei manchen Gruppen sind deutsche Bedürfnisse und exotische Angebote ja auch besonders einfach zu verbinden, wie etwa bei "La fort sacrée", wo es darum geht, wahlweise als Baum aus dem Regenwald oder mit westafrikanischen Masken verkleidet, darzustellen, daß der Wald heilig ist. Deutsche Deutsche verkleiden sich als Naturvolk und türkische Deutsche lehnen auf den Fensterbänken und schauen ihnen dabei zu. Verrückte Welt. Der ganze Kulturen-Karneval ist ein einziges Spektakel der Uneigentlichkeiten: Brave Gymnasiastinnen mit "Rebel whore"-T-Shirts schauen einem kubanischen Wagen zu, auf dem kein einziger Kubaner sitzt, sondern nur noch mehr Gymnasiasten. Und auf den Wagen der diversen Stadtteilprojekte, auf denen Migrantenkinder tanzen, wird am liebsten Michael Jackson oder KC & The Sunshine Band nachgesungen.

Manchmal wundert man sich, etwa beim Wagen "Heiraten in Berlin", auf dem Karstadt die Berliner Hochzeitskultur in Form eines Brautpaares auffahren läßt oder beim Country-Wagen, wo als Cowboys verkleidete Neuköllner Feierabend-Rocker zu Truckstop, Geiersturzflug und der Spider Murphy Gang Rock'n'Roll tanzen. Und manchmal freut man sich einfach, etwa wenn eine Blaskapelle Musik spielt, die sich anhört, wie Sägezahntechno unplugged. Und wer weiß, vielleicht funktioniert der Karneval für einige Wagen auch als Befreiung von der Herkunftskultur. Denn wer zwölf Stunden "Kalinka" spielt, wie die Musiker auf einem der russischen Wagen, ist wahrscheinlich mit dem Thema "Musik der Heimat" für den Rest des Jahres fertig.

Je besser Events funktionieren, je mehr Zuschauer Spektakelberlin auf die Beine bekommt, desto mehr lösen sich die Events in sich selbst auf. Und wo Weddinger Drogenrocküberbleibsel aus den Siebzigern zusammen mit umhängebetaschten Kulturwissenschaftsstudenten, komplizierte Grüße austauschenden B-Boys und windjackentragenden Frührentern Caipirinha mit Bratwurst oder schlicht Döner und Schultheiß verzehren, gibt es doch Anlaß zum Wohlfühlen. Und im Grunde ist es ja auch gleich, wer unter der Maske steckt, ein chinesischer Drachentanz sieht einfach gut aus.

So bewegt sich der Karneval der Kulturen irgendwo zwischen sympathischer Generalvertrashung auf der einen Seite, wo der Kulturbegriff so sehr aufgeweicht wird, daß er für alles taugt und gegen nichts mehr in Stellung gebracht werden kann, seinen Ab- und Ausgrenzungsmoment also völlig verliert, weil ihm jegliche Trennschärfe abhanden gekommen ist, und rassistischer Verballhornung auf der anderen Seite. Denn völlig frei von Momenten des Sich-Lustig-Machens ist es nie, wenn sich 40jährige weiße Männer mit einem Baströckchen verkleiden. In den besten Momenten hat es dann etwas von kulturellem Crossdressing, allerdings ohne Risiko.

Schuhplattelnde Bayern, etwa um deutsche Lebensart zu zelebrieren, zeigen sich allerdings keine, wenn auch unter dem Namen "Kiel ahoi Moin Moin" ein nachgebauter Butterfahrtskahn namens "Pottsau" die norddeutschen Fischköppe repräsentiert und das Publikum mit Liedern wie "Eine Seefahrt, die ist lustig" oder "An der Nordseeküste" erfreut.

Eine Gruppe Ghanaer, die schuhplatteln oder ein Trupp Kurden auf der Pottsau, die als Matrosen verkleidet Hans Albers nachspielen, das wäre dann Crossdressing mit Risiko gewesen. Doch so weit ging es in diesem Jahr nicht. Und wahrscheinlich haben die meisten Minderheiten ohnehin andere Probleme als die Identitätsturbulenzen in den Seelen deutscher Kleinbürger.