Der unendliche Übergang

EU-Erweiterung und informelle Ökonomie in Osteuropa

Westlichen Wirtschaftsexperten sind irritiert: Korruption, Mafia-Methoden und eine informelle Ökonomie, die sich jeder staatlichen Regulierung entzieht, dominieren die Ökonomien der ehemaligen Ostblock-Länder. Dabei sollte nach dem Niedergang des Realsozialismus doch alles besser werden, und die Länder sollten sich langfristig in die EU integrieren.

So überraschend aber ist das gar nicht, denn die Ausdehnung der ohnehin bestehenden realsozialistischen Schattenwirtschaft in einen überlebensnotwendigen informellen Sektor wurde nicht nur gegen, sondern auch durch die damaligen Staatsführungen selbst in Gang gesetzt und gehalten. In den achtziger Jahren wurde beispielsweise die parallele Nutzung staatlicher Betriebe durch deren Direktoren wohlwollend geduldet. Diese in Zeiten von Solidarnosc und Perestroika eingeleiteten Maßnahmen sollten die Effizienz der staatssozialistischen Ökonomie durch Einführung privatwirtschaftlicher Elemente erhöhen.

Diese Formen "hybriden Eigentums" beförderten jedoch eher den stillen Abgang des Staatssozialismus als ihn aufzuhalten. Nachdem die Staatsapparate weitgehend ihre Kontroll- und Verteilungsfunktionen eingebüßt hatten, wurden die schon etablierten Freiräume häufig nahtlos von jenen Gruppen weitergenutzt, die bereits vor dem großen Kladderadatsch die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel innehatten.

Die derart modernisierten Eliten hatten auch nach der Privatisierung in der Regel privilegierten Zugang zu Informationen und Krediten. Mit diesem Phänomen kämpfen westliche Moralisten. Sie ideologisieren den nur relativ schwach vollzogenen Elitenwechsel in den Betrieben als Mafia der alten Nomenklatura: Antikommunismus ohne Kommunismus. Der Übergang verlief entlang der nationalstaatlichen Grenzen mit erheblichen Unterschieden. In Polen wurde die Privatisierung als "Schocktherapie" favorisiert, in Rußland hingegen konnten sich einzelne Konzerne wie der Energiegigant Gazprom zu quasi-staatlichen Institutionen aufschwingen.

Die informelle Ökonomie umfaßt jedoch neben den ungeklärten staatlichen Regulationsformen auch die nicht warenförmigen sozialen Beziehungen. So stammen beispielsweise in der Ukraine mindestens die Hälfte der Einkommen aus informellen Quellen. Die Anbindung an Kombinate bietet Zugriff auf betriebseigene Wohnungen, Transportmittel, Kindergärten, sogar ein Tauschhandel von betriebseigenen Produkten gegen Lebensmittel und Konsumgüter findet statt. So kommt es, daß viele Kurzarbeit oder selbst unbezahlten Zwangsurlaub dem Arbeitslosengeld, das nur ein Fünftel des Lohnes beträgt, vorziehen.

In weniger geschützten Sektoren als den traditionell starken Stahl- oder Kohlekombinaten ist die Privatisierung längst schmerzhaft spürbar. Krankenschwestern, ÄrztInnen, BusfahrerInnen oder LehrerInnen müssen Zweit- und Drittbeschäftigungen nachgehen, um zu existieren.

Ein anderes Moment der informellen Ökonomie findet sich in den sogenannten Barter-Geschäften wieder. Diese stellen eine Art modernen Tauschhandel dar und kommen ohne Bargeldzahlungen aus. Die über Monate dauernden Streiks der Bergleute in Rußland waren beispielsweise nur wegen des regen Tauschhandels mit anderen Branchen möglich. Solche Praktiken finden sich nicht nur in ländlichen Gegenden, sondern sind selbst bei größeren Konzernen üblich. Anstatt die Stromrechnung zu überweisen, zieht die verschuldete Baufirma dem Gläubiger ein Bürogebäude hoch. So laufen riesige Werte an Fiskus und Sozialkassen vorbei, denn wo kein Bargeld fließt, können auch keine Steuern und Beiträge abgeschöpft werden.

Das Fehlen eines funktionierenden Verwaltungs- und Regierungsapparates und die Bedeutung der informellen Ökonomie wird von westlicher Seite daher als erhebliches Defizit im Transformationsprozeß zu demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften gewertet oder gleich der "organisierten Kriminalität" zugeordnet. Ausschlaggebend dafür ist das westliche Interesse, eine kapitalistische Normalität zu schaffen, in der transnationale Geschäftsabschlüsse überhaupt erst möglich werden.

Denn wie soll man in einem Land investieren und Profite machen, wenn nicht mal Schulden eingeklagt werden können, der Geldkreislauf nicht klappt und "undurchschaubare Geschäftspraktiken" vorherrschen? Die in den meisten ehemaligen Ostblock-Ländern mittlerweile etablierten Eliten sind allerdings weniger als mißglückte Transformation zu begreifen, denn als Normalität im Rahmen europäischer Hinterhofpolitik. Solange die Geschäftsbedingungen garantiert werden, ist die politische Ausrichtung des jeweiligen Regimes zweitrangig. Und im Zweifelsfall könnten mit dem neuen Nato-Auftrag auch andere Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Die ökonomischen und politischen Unterschiede der östlichen Anwärterstaaten erweisen sich in postkolonialer Tradition als ideale Transmissionsriemen, die eigenen Interessen in jenen Märkten zu verwirklichen. Das Projekt der EU-Ost-Erweiterung mit seinen gestaffelten Aufnahmekriterien wird dadurch in ein anderes Licht gerückt. Die ökonomische Landkarte Europas setzt sich derzeit aus vier konzentrischen Kreisen zusammen: Die erste Liga bilden die Staaten mit der gemeinsamen Euro-Währung. In der zweiten Klasse sind die EU-Länder, die wie Griechenland noch nicht am Euro teilnehmen dürfen. In der dritten und vierten Liga folgen die osteuropäischen Streber (Polen, Tschechien, Ungarn, Estland, Slowenien) sowie die Hinterbänkler (derzeit Litauen, Lettland, Bulgarien, Rumänien, Slowakei). Und zuletzt kommen die Loser: Die jugoslawischen Rest- Staaten und Protektorate, Albanien und die GUS.

Diese Staaten haben auch längerfristig kaum Aufstiegschancen. Denn wer in die höchste Klasse will, muß die Kriterien für die Währungsstabilität erfüllen. Und wer wenigstens in die zweite Liga will, hat mit der Agenda 2000 zu kämpfen und wird, wie es im Fachjargon heißt, auf seine Beitrittsfähigkeit "geröntgt".

Seit März vergangenen Jahres dürfen sich Länder wie Rumänien oder Bulgarien dieser Prozedur aussetzen. Bisheriges Fazit: Derzeit ist noch keiner der Kandidaten "beitrittsfähig". Selbst bei einer formellen Integration irgendwann im 21. Jahrhundert dürfte klar sein, daß sich das Unterordnungsverhältnis nicht auflösen wird. Die EU hat bereits "großzügige Übergangsfristen" bei der Freizügigkeit für Arbeitskräfte, dem Dienstleistungsverkehr und dem Agrarsektor angekündigt, für die auch jetzt schon restriktive Sonderregime gelten.

Die seit 1991 und 1995/96 bestehenden Freihandels- und Europa-Abkommen haben zwar dem Export von Industriewaren von West nach Ost, aber keine von der EU als zu "sensibel" eingestuften Waren wie Kohle, Eisen, Stahl und Textilien in entgegengesetzte Richtung betrieben. Bei allen Ost-Produkten, die potentiell wettbewerbsfähig wären, hat die EU klassischen Protektionismus betrieben. Wenden die Anwärter ähnliche Methoden an, gelten diese als "reformfeindlich", "wettbewerbsverzerrend" und als "Rückfall in den Kommunismus".

Die Anbindung an den Westen hat der EU bisher einen veritablen Export-Überschuß hauptsächlich bei Maschinen und Ausrüstung eingebracht. Polen, ein traditionelles Agrarland, importiert hingegen mittlerweile zunehmend Lebensmittel aus der goldenen Zone - gegen die hochsubventionierten Kartoffeln und Schnitzel aus der EU haben die polnischen Bauern keine Chance. Warschau kann seine Agrarprodukte nicht subventionieren, ohne gegen EU-Auflagen zu verstoßen.

Das "Mafiöse" erweist sich so als Produkt des Marktwirtschaftlichen und der EU-Rat als Treffen der Clanältesten. Wenn dann die fliegenden Händler ihre Jeans oder sich selbst zu Markte tragen, ist ihr Status schon längst definiert worden. "Im Grunde genommen sind wir Opfer eines scharfen Reglementierungssystems", resümiert das sozialdemokratische polnische Wochenmagazin Polityka, "von Mechanismen, die restriktiver sind als jene aus dem einstigen System sozialistischer Sovchosen."